2023-03-20
Von Sören Müller-Hansen, Süddeutsche Zeitung
Die nächste Pandemie kommt, so viel ist sicher. Nur wann es so weit sein wird, weiß niemand. Während die Corona-Pandemie abebbt, stellt sich da natürlich die Frage, wie gut die Menschheit auf kommende Gesundheitskatastrophen vorbereitet ist und auch: wie gut Deutschland vorbereitet ist. Viele wichtige Informationen fehlten während der diversen Corona-Wellen, wie im Blindflug steuerte die Politik durch die Pandemie. Wenn beim nächsten Mal nicht wieder viel zu viele Menschen an einem neuartigen Erreger sterben und unter massiven Einschränkungen leiden sollen, muss sich einiges ändern. Vor allem braucht es schneller zuverlässigere Informationen, um die Länder durch die Krise zu navigieren.
„Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen?". Das hat die Süddeutsche Zeitung Wissenschaftlerinnen und Experten, Ministerien, Behörden und Gesundheitsämter gefragt und ihre Antworten zusammengefasst. So entstand dieser Wunschzettel mit acht mehr oder weniger realistischen Forderungen. Oder auch: Hausaufgaben für Wissenschaft, Politik und Medien.
Die Wunschliste ist im März 2023 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. In diesem Dokument sind die Ergebnisse der Recherche ausführlich dokumentiert (Wunschliste in Stichpunkten) und die detaillierten Antworten von Expert*innen, Behörden und Ministerien öffentlich zugänglich (Antworten im Detail). Alle Inhalte in diesem Dokument können nach der Lizenz CC BY 4.0 weiterverwendet werden. Bei Fragen können Sie sich an Sören Müller-Hansen wenden.
Die Süddeutsche Zeitung hat für den Wunschzettel für die nächste Pandemie verschiedene Wissenschaftler*innen und Expert*innen, Ministerien, Behörden und Gesundheitsämter nach ihren Wünschen, Meinungen und Einschätzungen befragt. Diese Antworten sind in die Recherche eingeflossen:
- Christian Karagiannidis, Intensivmediziner und Leiter des Divi-Intensivregisters
- Peter Klimek, Komplexitätsforscher an der Medizinischen Universität Wien
- Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
- Ulrike Protzer, Virologin an der TU München
- Jonas Schöley, Demograf am Max-Planck-Institut für demografische Forschung
- Stefan Scholz, wissenschaftlicher Koordinator des Modellierungsnetzes für schwere Infektionskrankheiten
- gemeinsame Antwort des Modellierungsnetzes für schwere Infektionskrankheiten
- Bundesministerium für Gesundheit
- Bundesministerium für Digitales und Verkehr
- Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales Nordrhein-Westfalen
- Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
- Gesundheitsamt Köln
- Gesundheitsreferat der Stadt München
- Robert-Koch-Institut
- Science Media Center
- Digitale Meldekette vom Kindergarten bis zur Rechtsmedizin
- Alle Prozesse, von der Datenerfassung bis zur zentralen Auswertung müssen digital ablaufen
- Digital only
- Bundesministerium für Digitalisierung und Verkehr: „Die Position des BMDV ist ganz klar: digital only. Das heißt, die ideale digitale Datenerfassung ist wirklich digital – von Anfang bis Ende. Es darf keine Medienbrüche geben, wie wir sie zum Teil heute noch sehen – etwa wenn ein Dokument eingescannt und per E-Mail weitergesendet wird. Wir brauchen standardisierte Prozesse, die voll digitalisiert sind.
- Einheitliche Meldesoftware DEMIS: ist schon sehr umfangreich, müsste weiter ausgebaut werden, z.B. Kontaktpersonennachverfolgung integrieren; noch nicht flächendeckend eingeführt, weitere Meldepflichtige sollen aber integriert werden
- Digitale Datenerfassung ist mittlerweile in vielen Bereichen verpflichtend
- Divi-Intensivregister wird häufig als beispielhaft genannt
- Kommunen sollten Zugriff auf steuerungsrelevante Daten haben
- Informationen nicht nur zur Infektion, sondern auch zum Krankheitsverlauf, möglichen Komplikationen im Krankenhaus und im schlimmsten Fall zur Frage, ob Menschen mit oder an einer Erkrankung gestorben sind.
- Eine Engstelle war häufig die Fallerfassung in Gesundheitsämtern, Laboren und Arztpraxen. Sie müssen bei der Digitalisierung ihrer Prozesse unterstützt werden.
- Ulrike Protzer: „Dass wir ein Verbesserungspotenzial in puncto Digitalisierung in Deutschland haben, ist glaube ich kein Geheimnis mehr. Nur wenn ich eine Digitalisierung bis in die Bereiche der Gesundheitsämter hinein habe, kann ich Daten auch zentral auswerten. Da gibt es im Gesundheitsbereich auf jeden Fall enormes Verbesserungspotenzial."
- Gesundheitsreferat München: „Als perfekt zu bezeichnen wäre die digitale Meldekette vom Meldenden über die Kreis- und Landes- bis zu den Bundesstellen durch Demis oder vergleichbare Übermittlungssysteme. So könnten durch Zusatzmodule alle weiteren notwendigen Pandemiedaten eingespeist werden, da die Zugriffsberechtigungen für die jeweils bearbeitende Behörde exakt eingerichtet werden können."
- Staatsministerium für Gesundheit Bayern: „Insbesondere zur Entlastung der Krankenhäuser macht sich das StMGP zudem auch weiterhin für die Vereinheitlichung und Vereinfachung der genannten Meldewege stark. Bereits im Jahr 2020 wurde die Schaffung einer Schnittstelle zwischen IVENA und DIVI seitens verschiedener Bundesländer - darunter auch Bayern - angestrebt, was bislang allerdings erfolglos blieb. Das StMGP forderte das Bundesgesundheitsministerium zudem wiederholt zu einer zeitnahen und vollfunktionsfähigen Anbindung der Krankenhäuser an das Melde- und Informationssystem DEMIS auf, sodass ein technisch reibungsloser und automatisierter Ablauf bei der Abgabe von Meldungen gewährleistet werden kann."
- Daten zentral sammeln und international austauschen
- Einheitliche digitale Lösungen für alle Kommunen
- Bundesweit, für alle Akteure und schnell skalierbar
- In Demis sollten weitere Akteure integriert werden und Schnittstellen geschaffen werden.
- Wunsch nach bundesweit gesteuerter Datensammlung, Dateninstitut, Aggregation, Aufgabe wird ganz klar dem Bund zugeschrieben
- Gesundheitsamt Köln: „Die Realisierung ist Aufgabe des Bundes. Die Umsetzung müsste zentral gesteuert werden, es darf keine landesspezifischen Lösungen geben."
- Gesundheitsamt Köln: „Es sollte eine bundesweit gesteuerte Softwarelösung geben, für alle Kommunen sollte eine Gratissoftware angeboten werden, mit definierten Protokollen und vorhandenen Schnittstellen für föderale Eigenlösungen der großen Kommunen."
- Gesundheitsamt Köln: „Durch die nicht schnell genug angebotene Softwarelösung in der Pandemie gab es viele kommunale Eigenlösungen, sodass Daten kommunal vorhanden waren, jedoch nicht an das RKI weitergeleitet wurden – die einfachen Schnittstellen fehlten."
- Daten müssen trotzdem regional erhoben werden, dezentral
- Staatsministerium für Gesundheit Bayern: „Eine regionale Erhebung von Daten ist an vielen Stellen essenziell. Die Gesundheitsämter bewerten die gemeldeten Daten, fassen gegebenenfalls nach und ergreifen Maßnahmen auf lokaler Ebene. Dies wäre überregional so nicht leistbar."
- Science Media Center: „Dass Daten dezentral gesammelt werden müssen, liegt der in der Sache selbst begründet, aber die digitale Weitergabe, Aggregation und Auswertung der regionalen Daten müsste in Deutschland über die verschiedenen Akteure hinweg ermöglicht werden."
- Viele Daten werden erhoben, aber nicht zusammengeführt
- Das geht nur mit einheitlichen Standards und Software, klaren Definitionen, dann können Daten harmonisiert werden; definierte Datenschnittstellen (API's)
- Staatsministerium für Gesundheit Bayern: „Nicht etwa die hierarchische Struktur, sondern die Einheitlichkeit im Datenstandard und gegebenenfalls in der eingesetzten Software macht die Meldekaskade problemlos. Insbesondere die neue Meldesoftware Demis des RKI kann hier die notwendige Vereinheitlichung gewährleisten, sofern sie nicht nur den Meldeweg, sondern auch die meldeassoziierten Prozesse vor Ort (zum Beispiel Kontaktpersonennachverfolgung) integriert."
- Problematisch waren z.B. unterschiedliche Altersintervalle, eigentlich müssen Daten so gut wie möglich regional und nach Alter aufgeschlüsselt werden
- Kommunen, Wissenschaft und andere Akteure müssen bei berechtigtem Interesse einfachen Zugang zu verknüpften/harmonisierten Daten bekommen
- Daten sollten automatisch in einer zentralen Datenbank zusammengeführt und aufbereitet werden
- Es braucht klare Zuständigkeiten und gesetzliche Vorgaben
- Systematische Tests nutzen, Daten zusammenführen
- Doppelstrukturen vermeiden
- Föderales System ermöglicht zielgerichtete Maßnahmenpakete
- Damit Daten international ausgetauscht werden können, müssen sie einheitlich erfasst werden
- Europäischer Gesundheitsdatenraum
- Transparenz ermöglicht Forschung, schafft Vertrauen, ermöglicht abgestimmte Handlungen
- Noch mehr offene Daten, vieles hat sich schon verbessert: RKI auf Github, Divi-Intensivregister, Pandemieradar, Open Data Team des RKI will alle Metadaten öffentlich durchsuchbar machen
- Viola Priesemann: „Wenn Daten öffentlich zugänglich sind, dann gibt es auch Leute, die diese Daten wirklich nutzen. Das halte ich für extrem hilfreich, da diese Transparenz Ressourcen mobilisiert, die gerade in der Krise extrem hilfreich sind. Ich halte es für absolut essenziell, die Datengrundlage so öffentlich wie möglich zu machen, damit jede Person, jede Wissenschaftlerin, aber auch Laien beitragen können."
- Maschinenlesbare Daten
- Krankheitserreger kennen keine Grenzen, internationale Kommunikation und Koordination notwendig
- Ergebnisse von Modellierungsgruppen zentral sammeln und vergleichbar machen -> interdisziplinäre Modellierungsplattform
- Viola Priesemann: „Wir sollten europäisch denken. Wir denken zumeist nur Deutschland, Deutschland, Deutschland. Aber wir müssten die Daten eigentlich europäisch harmonisieren."
- Stichprobe der Bevölkerung testen und befragen
- Zufallsstichprobe/Seroprävalenzstudie
- Bevölkerungspanel: laut RKI sollen ungefähr 100 000 Menschen regelmäßig zu ihrem Gesundheitszustand befragt werden
- Symptomunabhängig testen
- Bundesweite Stichprobe mit der Möglichkeit lokaler Auswertung
- REACT bzw. Coronavirus Infection Survey in Großbritannien als Vorbild
- Man muss nicht zu perfektionistisch herangehen
- Reine Zufallsstichprobe zu fehleranfällig, besser gezielte Stichprobe mit konkreter Fragestellung
- Stichproben in der Covid-19-Pandemie waren zu spät und zu fragmentiert
- Kann aussagekräftige Informationen liefern zu Ausbreitung eines Erregers in der Bevölkerung, Krankheitsschwere, regionalen Unterschieden, Altersgruppen, Wirkung von Impfungen und Maßnahmen, psychosozialen Folgen
- Gesundheitsreferat München: „Zufallsstichproben sind häufig fehleranfällig, was bereits mit der Rekrutierung der Probanden beginnt. Daher halten wir gezielte Stichproben mit einer konkreten Fragestellung für geeigneter. Daten, die ursprünglich zu einem anderen Zweck gewonnen wurden, dürfen nicht auf neue Fragestellungen übertragen werden, da dies zu Fehlinformationen führen kann."
- Gesundheitsdaten digital verknüpfen
- Elektronische Gesundheitsdaten verknüpfen
- Routinedaten der Krankenkassen
- Versorgungsdaten
- Einheitliche elektronische Patientenakte: https://www.sueddeutsche.de/politik/elektronische-patientenakte-lauterbach-folgen-patienten-1.5766003
- Digitalisiertes Gesundheitssystem
- Peter Klimek: „Gerade im deutschsprachigen Raum und in Deutschland im Speziellen hinkt man bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen hinterher. Die starke föderale Fragmentation ist hier ein Hemmschuh." -> European Health Data Space sei hier ein Digitalisierungsschub, den unsere Gesundheitssysteme brauchen
- Falldaten sollten mit anderen Informationen zum Gesundheitszustand der Patient*innen verknüpfbar sein, z.B. Impfstatus, Vorerkrankungen, digitale Kontaktdaten für das Gesundheitsamt
- Nachverfolgung der Spätfolgen einer Infektion
- Verlauf nach Erkrankung
- Behandlungspfade von Patienten, Patient*innen-Plattform
- Science Media Center: „Auch Daten zum Verlauf nach Erkrankung wären wünschenswert, etwa Versorgungsdaten der Krankenkassen, die es erlauben, Behandlungspfade von Patienten im Gesundheitssystem zu verfolgen."
- Meldungen zu Kapazitäten im Gesundheitssystem, Pflegepersonal, betreibbare Betten
- Niedrigschwelliger Zugang sollte für Forschungsdatensatz möglich sein
- Wöchentliche Sterbefalldaten sollten aus Sonderstatus raus
- Weniger Bedenken beim Datenschutz
- Anonymisierung häufig möglich, Datenschutz als vorgeschobenes Argument
- Datennutzung und Datenschutz sollte besser abgewogen werden
- Digitalisierungsstrategie wird derzeit erarbeitet
- Häufig sehr defensive Haltung von Behörden, Krankenhäusern
- Viele Daten für gute Forschung notwendig
- Berechtigten Zugriff prüfen
- Viola Priesemann: „Das ist in Deutschland ein Knackpunkt. Wir wollen beides, wir wollen die Daten nutzen und wir wollen gleichzeitig die Anonymität garantieren. Wenn wir in Deutschland da eine gute Lösung entwickeln, könnte das ein Exportschlager werden."
- Ulrike Protzer: „Es ist wichtig, wie der Datenschutz interpretiert wird. Da sind wir in Deutschland sehr vorsichtig. Es gibt sicherlich moderne Wege, wie man auch unter dem Schutz persönlicher Informationen Daten austauschen kann. In Deutschland sind wir immer mit einem doppelten Sicherheitsgedanken unterwegs, der blockiert dann natürlich einfach Dinge."
- Staatsministerium für Gesundheit Bayern: „Nach den steten Vorgaben insbesondere des deutschen Datenschutzes ist eine Datenerhebung nur unter engen Voraussetzungen möglich, Gesundheitsdaten des Einzelnen stehen dabei unter besonderem Schutz. Das Persönlichkeitsrecht der von der Pandemie betroffenen Menschen setzt der Datenerhebung Grenzen."
- Risikogruppen finden, Maßnahmen anpassen
- Sozio-ökonomische Informationen
- Bevölkerungsbezogene Beobachtungsdaten
- Kleinräumige Datenanalysen ermöglichen, um Risikogruppen erkennen zu können
- Gesellschaftliche und soziale Auswirkungen erforschen: Krankenstände in kritische Infrastruktur, psychosoziale Folgen, Einstellungen in der Bevölkerung
- Stark betroffene Bevölkerungsgruppen gezielt ansprechen, Kommunikation anpassen
- Clusterrandomisierte Interventionsstudien: Unsicherheit nutzen, heterogene Landkreise nutzen, unterschiedliche Maßnahmen ausprobieren und Wirksamkeit erforschen
- Dafür müssen die Daten möglichst genau nach Region oder sogar Stadtteilen und Alter aufgeschlüsselt werden
- Jonas Schöley: „Daten sollten, wo immer möglich, mindestens nach Region und Alter aufgeschlüsselt bereitgestellt werden. Je detaillierter die Regionen und Altersgruppen, desto besser. Infektionskrankheiten treten in räumlichen Clustern und in bestimmten Altersgruppen auf. Demgegenüber dürfen wir nicht blind sein."
- Ansteckungsorte erfassen und auswerten: Auswirkung von Maßnahmen erkennen, Akzeptanz für politische Entscheidungen stärken, lokal haben Gesundheitsämter diese Information eigentlich auch abgefragt, aber keine ausreichende Erfassung
- Viola Priesemann: "Den Ansteckungsort zu kennen, hätte uns sehr geholfen, besser zu verstehen, wann und unter welchen Umständen wir welches Risiko an welchen Orten haben. Es geht mir als Modelliererin nicht darum zu sagen, dass wir das ein oder andere schließen müssen, sondern mir geht es vor allem darum zu sagen, was wieviel zur Ausbreitung beiträgt."
- Kontaktverhalten der Bevölkerung untersuchen; Mobilitätsdaten aus Mobilfunk reichen beispielsweise nicht, um etwa Kontakte in Altersheimen zu erfassen.
- Geschwindigkeit vor Perfektion
- Auch mit nicht perfekten Daten sind Abschätzungen möglich. Die Daten müssen dafür aber vorliegen.
- Geschwindigkeit und Qualität schließen sich nicht gegenseitig aus.
- Peter Klimek: „Eine der Lehren ist, dass hier Geschwindigkeit und Qualität sehr wichtig sind. Entscheidungen müssen oft unter sehr hohem Zeitdruck gemacht werden. Die Verknüpfungen müssen daher auf Knopfdruck durchführbar sein, wenn man hier auf Analysen ein paar Wochen warten muss, sind die Informationen für das Pandemiemanagement untauglich."
- Schnelle Datenerfassung und Auswertung, ausgeruhte Kommunikation
- Schnellere Daten durch digitale Meldekette
- Besser kommunizieren "hier sind die Daten und das sind die Unsicherheiten" als "das wissen wir nicht, es gibt keine Daten"
- Je genauer epidemiologische Informationen zur Verfügung stehen, desto besser können auch Modelle mögliche Szenarien abbilden.
- Datengetriebene und evidenzbasierte Steuerung einer Pandemie geht nur mit aktuellen Daten, auch wenn sie nicht perfekt sind. Bessere Daten mit zeitlicher Verzögerung helfen nicht dabei, eine Pandemie zu steuern, in der häufig sehr schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen.
- Aktuell modellierte Szenarien und Prognosen können Entscheidungshilfe sein.
- RKI: „Zu einem gewissen Grad wird es allerdings auch in künftigen Krisen unvermeidbar sein, dass zuweilen kurzfristig notwendige Entscheidungen auf Basis unsicherer Datenlage getroffen werden müssen. Eine einhundertprozentig sichere und in allen Aspekten vollständige Datenlage kann nicht erreicht werden, erst recht nicht beim Auftreten eines neuartigen Erregers."
- Staatsministerium für Gesundheit Bayern: „Die Publikation wissenschaftlicher Erkenntnisse beruht auf evidenzbasierten, umfassenden Forschungen, die notwendigerweise erheblichen Vorlauf benötigen, und findet daher stets erst zeitverzögert statt. Diese Erkenntnisse stehen in infektiologischen Krisensituationen, in welchen schnelle Entscheidungen und präventive Empfehlungen erforderlich sind, leider oft nicht frühzeitig zur Verfügung."
- Krankheitserreger erforschen und überwachen
- Genomische Surveillance = Varianten erforschen
- Erregereigenschaften kennen, Entwicklungen verfolgen
- Abwassermonitoring
- Grundlagenforschung konstant fördern, stärken, Nachwuchs ausbilden, Attraktivität steigern
- Ulrike Protzer: „Wir brauchen eine konstante Förderung von Grundlagenforschung, sowohl die Forschung in der Grundlagenvirologie, um die Virusstruktur und die Viren in Zellen besser zu verstehen, als aber auch die Forschung im Bereich des Immunsystems. Die Strukturen, solche Forschung durchzuführen, müssen auch in Deutschland und Europa da sein, damit man zumindest versuchen kann, die Viren, die auf uns zukommen können, so gut wie möglich verstanden zu haben, bevor sie da sind."
- Konstante Überwachung und Erforschung von Viren, um im Falle einer Pandemie auf Eigenschaften vorbereitet zu sein
- International wissenschaftlich kommunizieren, auch wenn politische Beziehungen schwierig sind
- Ulrike Protzer: „Damit wir wissen, was potenziell auf uns zukommen kann, brauchen wir eine internationale Surveillance. Dafür braucht es eine Kultur der Zusammenarbeit und der Kommunikation. Da haben wir jetzt politische Probleme. Mit Russland offensichtlich, aber leider ist im Moment auch die Situation mit China nicht ganz einfach. Da hoffe ich, dass wir wieder auf ein Niveau kommen, auf dem guter Austausch auf einer wissenschaftlichen Ebene möglich bleibt."
- Es sollte dauerhaft nach wissenschaftlichen Kriterien besetzte Expert*innenräte geben (nicht nach politischen Interessen oder erwarteten Ergebnissen) -> können früh auf Wissenslücken hinweisen
- Viola Priesemann: „Eine Art Expertengremium zu den verschiedenen Themen, das rein wissenschaftlich zusammengesetzt ist, ist essenziell für das Vertrauen. Man sollte nicht nach Prominenz, nicht nach Politik, nicht nach Ergebnis dieser Gremien zusammenstellen, sondern immer rein nach Expertise."
- Klar kommunizieren, Rollen trennen
- Wissenschaftlich fundierte Kommunikation: zu Unsicherheiten stehen, Szenarien kommunizieren, Fehl- und Falschinformationen erschüttern das öffentliche Vertrauen, Kommunikation von Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten, Risiken
- Gesundheitskompetenz fördern, Vertrauen in Institutionen stärken (hängt auch mit Wirksamkeit von Maßnahmen, Impfbereitschaft etc. zusammen)
- Datengrundlage, 2. Szenarien, 3. Güterabwägung
- Klare Rollentrennung: Wissenschaft und Behörden erheben Daten (Wissenschaft frei nach wissenschaftlichen Standards, Behörden nach gesetzlich geregelten Prozessen), Wissenschaft forscht, Wissenschaft kommuniziert Stand der Forschung und mögliche Szenarien, Politik trifft evidenzbasierte Entscheidungen
- SMC: „Gelingende Kommunikation in der Öffentlichkeit kann nur dann ideal funktionieren, wenn alle Beteiligten ihre Rolle ausfüllen."
- Modellierer*innen sollten keine Maßnahmen fordern, Modelle sollen als Hilfestellung für Entscheidungsträger dienen
- Statistisches Verständnis von Entscheidungsträgern ist wichtig
- Klare und offene Kommunikation, auf Basis welcher Wissenschaft politische Entscheidungen getroffen werden
- Verantwortung von Medien: spezialisierte wissenschaftliche Berichterstattung; kein Wettlauf um die jeweils aktuellsten Zahlen, Journalismus sollte langsamer sein; Mittelwerte statt Extremszenarien kommunizieren; weniger Aktualität und Regionalität, dafür Gesamtbild, handlungsrelevantes Wissen vermitteln; Zusammenhänge erklären; politische Entscheidungen evidenzbasiert hinterfragen
- Science Media Center: „Gerade zum Anfang der Pandemie gab es einen Wettlauf nach den jeweils aktuellsten Zahlen. Dies hat dazu geführt, dass viele Angebote (Dashboards, Infokästen auf Startseiten und der ersten Seite der Tageszeitung) genau auf diese neuesten Zahlen, gerne auch mit der Veränderung zur Vorwoche, fokussierten. […] dann wurde schnell klar, dass das tiefere Verständnis nicht immer übermittelt wurde. Diese tiefere Erkenntnis ist nicht mit der aktuellsten Zahl zu verwechseln. Bei der nächsten Pandemie müssen die Medien daher stärker diese Zusammenhänge erklären."
- Science Media Center: „Echte Unsicherheiten (Im Frühjahr 2020 war z.B. noch nicht klar, wann eine Impfung kommt und wie wirksam sie sein würde) sollen dabei nicht verschwiegen, sondern können zum Beispiel in Szenarien kommuniziert werden."
- Science Media Center: „Zusammenfassend könnte etwas weniger Aktualität und Regionalität bei der Datenberichterstattung dabei helfen, das Gesamtbild für das Publikum besser zu zeichnen, den Fokus also nicht auf reine aktuelle Information, sondern stärker auf handlungsrelevantes Wissen zu legen."
- Wissenschaftsjournalismus ohne Paywall, auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten
- Viola Priesemann: „Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre das Wissenschaftsjournalismus in der Qualität, wie wir sie hatten, aber ohne Paywall und gezielt für alle Gruppen, von wirklich einfacher Sprache bis komplex. Einen Wissenschaftsjournalismus ohne Paywall in der Krise, das müssten wir uns eigentlich leisten können. Und ich würde mir von den Medien wünschen, dass sie langsamer sind."
- Peter Klimek: „Letzten Endes deuten mittlerweile viele Studien darauf hin, dass einer der wichtigsten Hebel die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung ist. Je höher diese Kompetenz ist, desto weniger wird man auf stark einschneidende Maßnahmen wie Lockdowns dauerhaft zurückgreifen müssen."
- Stefan Scholz: „Es steht Modelliererinnen und Modellierern meiner Meinung nach nicht zu, Maßnahmen zu fordern. Modelle sollen Entscheidungsträgern nur helfen, wahrscheinliche Entwicklungen und die Konsequenzen von Maßnahmen bezüglich epidemiologischer Fallzahlen abzuschätzen."
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
In erster Linie würde ich mir eine allgemeine und viel ausgeprägtere Datentransparenz wünschen im Hinblick auf wichtige Versorgungsdaten und Kapazitäten. Ganz essenziell sind in meinen Augen die genaue Beschreibung und tagesaktuelle Darstellung der vorhandenen Kapazitäten im Gesundheitswesen, insbesondere in der stationären Versorgung und im Rettungsdienst. Ich befürchte, dass wir in den kommenden Jahren Krankenhausschließungen sehen werden, weil einfach nicht mehr ausreichend Personal zur Verfügung steht und dies völlig unbemerkt unterm Radar verlaufen wird. Ein No Go für mich.
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Aus technischer Sicht halte ich den Aufbau eines Real-Time-Kapazitäten-Monitorings für alle Krankenhausbetten in Deutschland inklusive des am Patienten tätigen Personals innerhalb der nächsten 12 Monate zwar für technisch machbar, dies bedarf aber eines Kraftaktes und insbesondere des Willens zur transparenten Darstellung dieser Daten. Letzteres sehe ich abgesehen von einzelnen Akteuren nicht.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
Bund und Länder sind grundsätzlich für das Kapazitäten-Monitoring zuständig. Im Moment erleben wir allerdings das höchste Reformtempo im Gesundheitswesen, das wir je hatten, sodass es nachvollziehbar ist, dass dies im Jahr 2023 kaum umsetzbar sein wird.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Das Intensivregister hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass wir in der Pandemie allzeit über die Kapazitäten im Gesundheitswesen gut informiert waren. Dies wäre vor der Pandemie in diesem Ausmaß nicht denkbar gewesen. Auch das schnelle Generieren von Inzidenzen oder das Abwassermonitoring auf Corona-Viren halte ich für eine deutliche Verbesserung der Datenlage. Riesige Defizite haben wir weiterhin in der Erfassung des am Patienten tätigen Personals, welches letztendlich bestimmt, welche Kapazitäten im Gesundheitswesen überhaupt noch zur Verfügung stehen, sowie die damit verbundene tagesaktuelle Meldung über die mit Personal betreibbare Betten für jedes einzelne Krankenhaus.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Ich sehe im föderalen System im Hinblick auf die Daten nur bedingt einen Vorteil gegenüber einer zentralen, bundeseinheitlichen Datensammelstelle, die die Daten darüber hinaus auch entsprechend aufbereitet und maschinenlesbar zur Verfügung stellt. Mein Wunsch wäre eine Einigung zwischen Bund und Ländern auf einheitliche Systeme zur Erfassung der Kapazitäten im Rettungsdienst, den Normalstationsbetten und im Intensivbereich. Dies sollte meiner Ansicht nach vom Bund koordiniert werden und mit der hohen Auflösung den Ländern zur Verfügung gestellt werden. Gleiches gilt für die Infektionserfassung. Doppelstrukturen sollten vermeiden werden.
Sie haben in einem früheren Gespräch gesagt, dass die zentrale Erfassung und Auswertung von Daten aus Krankenhäusern und klinischen Studien in Deutschland häufig am föderalen System scheitere, die Krankenhäuser seien als Einzelkämpfer unterwegs . Wie könnte das in einer idealen Welt besser funktionieren und wer wäre dafür zuständig?
Das Beste wäre in meinen Augen ein Bundesinstitut, das alle relevanten Versorgungsdaten zusammenstellt und der Wissenschaft anonymisiert und aggregiert zur Auswertung zur Verfügung stellt.
Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie aus den Krankenhäusern wünschen (sowohl solche, die es jetzt schon gibt, als auch Wünsche für die Zukunft)?
Wir brauchen aus den Krankenhäusern ohne Wenn und Aber die Kapazitäten in Realtime-Geschwindigkeit sowie die Zahlen des am Patienten tätigen Personals, insbesondere des Pflegepersonals, und vor allem auch die Möglichkeit der anonymisierten Auswertung der Versorgungsdaten. Hier steckt unglaublich viel Potenzial zur Verbesserung der Therapie, welches wir nahezu vollkommen ungenutzt lassen in Deutschland. Länder wie Israel sind uns hier um eine Dekade voraus und mich frustriert, dass wir wissenschaftlich so extrem weit abgehängt sind, was die Versorgungsforschung oder Anwendung von KI in diesem Feld betrifft.
Wie könnten Daten aus den Krankenhäusern Ihrer Meinung nach am besten veröffentlicht und kommuniziert werden?
Das Entscheidende an den Daten ist nicht, aus welchem Krankenhaus sie kommen, sondern entscheidend ist: Wie tragen diese Daten dazu bei, dass der Patient a) individuell besser versorgt wird und b) bessere Therapien entwickelt werden können. Dazu ist es in meinen Augen unabdingbar, dass es eine einheitliche Patientenakte gibt, auf die Ärzte von überall her zugreifen können, so dass im Notfall, selbst wenn sich der Patient nicht mehr artikulieren kann, alle Informationen vorliegen. Dieses Defizit kostet tagtäglich Menschenleben.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
Bei allen schweren Atemwegserkrankungen, und insbesondere natürlich bei Pandemien und neuartigen Erregern, ist natürlich eine epidemiologische Surveillance notwendig, die einerseits alle schweren Verläufe (Spitalsaufenthalte) umfasst, bei Pandemien und meldepflichtigen Erkrankungen natürlich auch eine umfassende Erfassung aller Infektionsfälle sowie genomische Surveillance. Für das evidenzbasierte Management einer Pandemie ist aber ebenso wichtig, dass diese epidemiologischen Daten zu Infektionen mit anderen Datensätzen auf Individualebene verknüpfbar sind. Das sind elektronische Gesundheitsdaten (z.B. Daten der Sozialversicherungen, Krankenhausinformationssysteme, Impfungen, ...) durch die man schnell Risikogruppen identifizieren kann, z.B. ob Patient:innen mit bestimmten Vorerkrankungen ein höheres Risiko für schwere Verläufe haben. Aber auch sozio-ökonomische Informationen. Durch einen Abgleich von Daten zu Infektionsdaten mit Arbeitgeberinformation kann man schnell und einfach herausfinden, an welchen Orten es zu besonders vielen oder wenigen Ansteckungen kommt (stecken sich Lehrerinnen, Gastronomiebedienstete, Einzelhandelsangestellte, ... häufiger oder weniger häufig an als andere Berufsgruppen?). Das könnte wiederum informieren, ob Maßnahmen wie Einschränkungen im Schulbetrieb oder in bestimmten wirtschaftlichen Sektoren vertretbar sind oder nicht.
Eine der Lehren ist, dass hier Geschwindigkeit und Qualität sehr wichtig sind. Entscheidungen müssen oft unter enormen Zeitdruck gemacht werden. Die oben erwähnten Verknüpfungen müssen daher auf Knopfdruck durchführbar sein, wenn man hier aus Analysen ein paar Wochen warten muss, sind die Informationen fürs Pandemiemanagement untauglich.
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Wir haben global gesehen, dass die Länder, die in der Digitalisierung des Gesundheitssystems am weitesten sind, oft einen Informationsvorsprung gehabt haben und häufig die Pandemie über weite Phasen besser im Griff gehabt haben als Länder, die im datenmäßigen Blindflug waren. Ich denke hier in erster Linie an skandinavische Länder (Finnland mit Findata, Dänemark), aber natürlich auch südostasiatische Länder wie Singapur, Südkorea, Taiwan, ... Gerade im deutschsprachigen Raum und in Deutschland im speziellen hinkt man bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen aber deutlich hinterher, siehe z.B. den Digital Health Index der Bertelsmannstiftung (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/der-digitale-patient/projektthemen/smarthealthsystems). Klar ist, dass eine entsprechende funktionale Datenlandschaft hier große Anstrengungen braucht, die ein Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Kräfte im Gesundheitssystem braucht. Die starke föderale Fragmentierung ist hier ein Hemmschuh.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
Bewegung kommt in diese Angelegenheit momentan durch die Initiative des European Health Data Spaces (europäischer Gesundheitsdatenraum) https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-and-care/european-health-data-space_en. Wenn dies tatsächlich wie in der momentan geplanten Form kommt, wäre das der Digitalisierungsschub, den unsere Gesundheitssysteme brauchen, und der nicht nur ein effektiveres Pandemiemanagement ermöglicht, sondern insgesamt einen Riesenbeitrag zu einer datengetriebeneren und evidenzbasierten Steuerung im Gesundheitswesen beitragen kann. Es liegt jetzt an den Mitgliedsstaaten, diese Initiative beherzt umzusetzen und nicht auf eine nutzlose Minimalvariante zu reduzieren, die am Ende mehr Arbeit macht als hilft. Natürlich stehen hier gerade die Länder, die die Digitalisierung am meisten notwendig hätten, auch am meisten auf der Bremse. Eine Orientierung an den Best Practice Ländern wie Finnland oder Dänemark wäre aber bitter notwendig.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Einer der nachhaltigen Effekte, die ich sehe, ist, dass sich die Balance zwischen Datennutzung zum Wohle der Bevölkerung und Abwägungen hinsichtlich des Datenschutzes in der öffentlichen Wahrnehmung verschoben hat. Datenschutz hat natürlich eine enorme Bedeutung, diese Risiken können am Ende des Tages aber durch technische und organisatorische Maßnahmen wesentlich reduziert werden. Skandinavische Länder arbeiten ja unter demselben europäischen rechtlichen Rahmen (DSGVO) und bieten hier wesentlich mehr Möglichkeiten. Dass diese Überbetonung des Datenschutzes nicht immer zum Wohle der Bevölkerung ausfällt (insbesondere in einer Pandemie), ist denke ich doch eine der Lehren. Darüber hinaus wurden einige punktuelle Verbesserungen erzielt, z.B. mit dem DIVI-Intensivregister.
Wie sollten Ihrer Meinung nach am besten Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Maßnahmen kommuniziert werden?
Das ist schwierig, zumal ich auch Datenanalyst und Modellrechner bin. Insgesamt wurde in einigen Phasen vielleicht zu wenig auf das "Schweizer Käse Modell" Wert gelegt. Dieses besagt, dass jede einzelne Maßnahme eine reduzierte Wirksamkeit hat (Masken, Teststrategie, Kontaktreduktion in bestimmten Bereichen, Verhaltensänderungen, Hygiene, ...) und für sich alleine nicht auf Dauer eine Kontrolle über die Pandemie ermöglicht. Wenn hinreichend viele dieser Maßnahmen übereinandergeschichtet werden, ergibt sich daraus aber sehr wohl eine starke Wirkung. Und was man an Wirksamkeit in einer der Schutzebene nicht hat (z.B. Hygienemaßnahmen), muss man auf anderen Ebenen mit mehr Strenge kompensieren (Kontaktreduktion). In der Kommunikation spitzte sich das aber häufig auf die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen (z.B. Masken) zu, während aus wissenschaftlicher Sicht die Wirksamkeit einer solchen Maßnahme nicht "für sich", sondern im Gesamtverbund aller Maßnahmen und der Bereitschaft der Bevölkerung, diese mitzutragen, beurteilt werden kann. Letzten Endes deuten mittlerweile viele der Studien darauf hin, dass einer der wichtigsten Hebel die Gesundheitskompetenz / health literacy in der Bevölkerung ist, und hier sollte man auch insbesondere zur Vorbereitung auf mögliche zukünftige Pandemien ansetzen. Je höher diese Kompetenz ist, desto weniger wird man auf stark einschneidende Maßnahmen wie Lockdowns dauerhaft zurückgreifen müssen.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
In der Covid-Pandemie wurde an Kliniken und in Gesundheitseinrichtungen sehr viel und auch sehr systematisch getestet. Innerhalb der Kliniken wurden diese Testergebnisse zumindest auch grob gemeldet. Das ist natürlich nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, aber hätten wir diese Daten kontinuierlich bekommen, wäre das zumindest repräsentativ für die Kliniken gewesen. Daraus hätte man die Trends der Infektionslage wunderbar ablesen können. Man sollte also nutzen, dass an verschiedenen Orten systematisch getestet wird und diese Daten zusammenführen. Wenn die Erhebungen nicht perfekt repräsentativ sind, kann man einfach einen Umrechnungsfaktor abschätzen.
Das ist leider überhaupt nicht genutzt worden. So viele Unikliniken, so viele Kliniken haben tagtäglich ihr gesamtes Personal durchgetestet, oder zumindest zweimal die Woche. Da hätten wir keine Diskussion mehr über die Dunkelziffer und echte Inzidenzen gehabt.
Eine Testpositivrate unter allen Leuten, die getestet wurden, vor allem wenn sie anlasslos getestet wurden, ist sehr aussagekräftig. Aber diese Daten wurden schon lokal nicht systematisch gesammelt und dann vor allem nicht zusammengeführt. Das ist problematisch. Die einzelnen Kliniken wollen die Daten auch nicht herausgeben. Eine ihrer Sorgen ist der Datenschutz. Wenn die Inzidenz in der Klinik hoch ist, ist das natürlich ein negatives Image für Patienten, die sich dann vielleicht für eine andere Klinik entscheiden. Das ließe sich aber durch Anonymisierung lösen.
Was ich mir sehr gewünscht hätte, ist der Ort der Ansteckung. Lokal haben das viele Gesundheitsämter eigentlich auch abgefragt. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich an diese Daten der 402 Gesundheitsämter kommen könnte. Die Gesundheitsämter haben interessante Daten abgefragt, zum Beispiel auch den Ort der Ansteckung. Den zu wissen, wäre sehr hilfreich gewesen, weil sich Ansteckungsorte auch ändern, wenn es größere Kontaktbeschränkungen gibt. Wenn die Schulen offen sind, hat man natürlich viele Ansteckungen in der Schule. Wenn die Schulen zu sind, oder wenn es nur eine Notbetreuung gibt, gibt es dort im Verhältnis wesentlich weniger Ansteckungen.
Solche Sachen hätte uns sehr geholfen, um besser zu verstehen, wann, wo, unter welchen Umständen wir welches Risiko an welchen Orten haben. Es geht mir als Modelliererin nicht darum zu sagen, dass wir das ein oder andere schließen müssen, sondern mir geht es vor allem darum zu sagen, was wieviel zur Ausbreitung beiträgt. Ich kann nicht 400 Gesundheitsämter anschreiben und die Daten harmonisieren, da jedes Amt die Informationen anders abgefragt hat. Das wäre wahrscheinlich ein Jahr Arbeit.
Das ist in Deutschland der Knackpunkt. Wir wollen beides, wir wollen die Daten nutzen und wir wollen sie gleichzeitig anonym haben. Wenn wir das in Deutschland entwickeln, könnte das auch wieder ein Exportschlager werden.
Eine ganz triviale Sache noch: harmonisierte Altersintervalle. Die Impfungen wurden, aus welchem Grund auch immer, in so großen Altersgruppen angegeben, dass man damit fast nichts anfangen konnte. Die Todesfälle, die Inzidenzen und die Hospitalisierungen waren in verschiedenen Altersintervallen.
Und dann sollten wir, nicht Deutschland, sondern Europa denken. Das ist mir ganz wichtig, ich habe in der Pandemie ja auch an europäischen Stellungnahmen gearbeitet. Wir denken immer nur Deutschland, Deutschland, Deutschland. Aber wir müssten das eigentlich europäisch harmonisieren.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Ich denke, dass die Pandemie schon ein Weckruf war, denn ganz viele der Diskussionen, die wir hatten, hätten mit einer besseren Datengrundlage besser geführt werden können. Wir hätten zum Beispiel bei den Todesfällen den Status besser gewusst, ob Menschen mit oder an Covid gestorben sind. Dann hätte man in der ersten Welle ganz klar sagen können, dass fast alle wegen Covid gestorben sind. Das hat sich dann nach dem Impfen deutlich verschoben. Was auch zu erwarten ist, wenn die Impfung um den Faktor zehn schützt, dann sterben vor allem noch die Personen, die eine Co-Infektion haben.
Viele der Punkte, die aus dem Querdenkerlager kamen, waren ja nicht völlig unberechtigte Fragen. Wenn man das Wissen dazu zusammengesammelt hat, wie bei einem Puzzlespiel, konnte man die Fragen auch beantworten. Aber man hatte keine klare Datenlage, mit der man zeigen konnte, wer an, mit oder wegen Covid gestorben ist. Eigentlich gibt es diese drei Stufen: Ganz klar wegen Covid verstorben. Eine Grunderkrankung, aber Covid hat den Ausschlag zum Versterben gegeben. Oder eine andere Infektion und Covid war dann zufällig ein Befund. Wie gesagt, in der ersten Welle war extrem klar, dass die Menschen meist wegen Covid verstorben sind, da konnte man die Kliniker fragen, aber es gab nie einen öffentlich zugänglichen Datensatz.
Müssten Daten besser öffentlich zugänglich sein?
Wenn Daten öffentlich zugänglich sind, dann gibt es auch Leute, die diese Daten wirklich nutzen. Das halte ich für extrem hilfreich, da diese Transparenz Ressourcen mobilisiert, die gerade in der Krise extrem hilfreich sind. Ich halte es für absolut essenziell, die Datengrundlage so öffentlich wie möglich zu machen, damit jede Person, jede Wissenschaftlerin, aber auch Laien beitragen können. Ich hätte zu Beginn der Pandemie zum Beispiel nicht die Modellierungen veröffentlichen können, wenn es nicht die Daten von der Johns Hopkins University gegeben hätte. Sie haben internationale Fallzahlen akribisch und sehr schnell mit ein paar Flüchtigkeitsfehlern zusammengetragen. Ich hatte damals ein riesiges Problem damit, dass wir andere Datenquellen von Hand aus einem PDF auslesen mussten. Wir brauchen maschinenlesbare Daten, ich denke, diese Erkenntnis ist inzwischen auch halbwegs angekommen.
Welche Daten würden Sie sich konkret dafür wünschen, mit Modellierungen besser Informationen für die politische Entscheidungsfindung liefern zu können?
Ich hätte sehr gerne randomisierte Studien gehabt. Wir hätten unsere Unsicherheiten nutzen können und in den heterogenen Landkreisen und Bundesländern Maßnahmen testen können, etwa wenn man sich nicht sicher ist, ob Wechselunterricht in der Schule hilft oder ob welches Testregime das Beste ist. Man hätte ganz klar sagen können, dass man nicht wisse, welche Maßnahmen besser sind, und sie systematisch testen und zwischen Bundesländern oder Landkreisen mit unterschiedlichen Maßnahmen vergleichen können. Man hätte anerkennen können, dass man nicht weiß, welche die beste von allen guten und sinnvollen Strategien ist, und sie systematisch und pseudorandomisiert vergleichen können. Wir hätten viel mehr zu unserer Unsicherheit stehen und Nutzen daraus schlagen können.
Wie könnte aus Ihrer Sicht in einer Pandemie besser kommuniziert werden, insbesondere über die Ergebnisse von Modellierungen?
Das Erste, was ich gern viel besser getrennt sähe in der öffentlichen Debatte, ist die Datengrundlage. Was ist der Wissensstand inklusive der Unsicherheit über das Wissen? Wie gut hilft eine Impfung gegen Ansteckung? Nicht, ob sie hilft, ja oder nein, sondern wie gut sie hilft, für welche Personen und Altersgruppen, bei welcher Variante. Die Datenlage müsste sinnvoll und gut erklärt werden. Auf dieser Basis kann man Maßnahmen besprechen, die alle innerhalb des Realistischen sein und nicht ins Wunschdenken abdriften sollten. Der dritte Schritt ist dann die Güterabwägung. Was machen wir? Das ist ein gesellschaftlich-politischer Diskurs, aus dem ich mich versucht habe rauszuhalten. Dieses Trennen ist mir sehr wichtig in der Kommunikation.
Der zweite große Block: Wenn Modellierungen kommuniziert werden, gibt es zwei Sorten, das eine ist ein Forecast, so etwas wie eine Wettervorhersage, und das andere sind Mechanismen, vergleichbar mit der Klimaforschung. Wenn man dann Szenarien berechnet, zeigt man in beiden Fällen typischerweise ein Best-Case, ein Worst-Case und ein wahrscheinliches Szenario. Ich fand es extrem schwierig, dass die Worst-Case-Szenarien so viel Aufmerksamkeit bekommen haben und die Details und die Quellen häufig hinter einer Paywall standen.
Das führt dann natürlich zu einer Alarmstimmung, die man gar nicht haben möchte, und anschließend zu einer Enttäuschung, weil das extreme Szenario gar nicht eingetreten ist. Man sollte deshalb die Mittelwerte stärker kommunizieren als die Extremwerte.
Ich fand ehrlich gesagt den Wissenschaftsjournalismus extrem gut. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre das Wissenschaftsjournalismus in der Qualität, wie wir sie hatten, aber ohne Paywall und gezielt für alle Gruppen, von wirklich einfacher Sprache bis komplex. Einen Wissenschaftsjournalismus ohne Paywall in der Krise, das müssten wir uns eigentlich leisten können. Und ich würde mir von den Medien wünschen, dass sie langsamer sind. Auch wenn ich es für Wunschdenken halte, das Mediengeschehen langsamer zu bekommen. Eine gute Analyse braucht Zeit. Klar, es gibt Sachen, die weiß man, da gibt es Experten für, aber es gibt auch Dinge, da braucht man Zeit, um sich das quantitativ anzuschauen.
Wie würde dafür die Forschungsstruktur deiner Träume aussehen?
Wir wissen nicht, was die nächste Krise ist. Eine starke Grundlagenforschung ist mit eine der besten Krisenpräventionen. Und auch eine Grundfinanzierung der Grundlagenforschung. Ich konnte von einem Tag auf den anderen alles stehen und liegen lassen, weil ich nicht eingebunden war in finanzierte Konsortien, wo ich Forschung machen musste für Anträge, die ich gestellt hatte.
Die Bereitschaft ist auf jeden Fall gegeben, ob es auch die Freiheit gibt, das hängt am Wissenschaftssystem und wir haben in Deutschland eine halbwegs gute Grundlagenfinanzierung. Das sollte auf jeden Fall nicht weniger werden, vielleicht auch wieder mehr. Aus Drittmittelfinanzierung darf man das rechtlich nicht machen.
Haben Sie noch weitere Wünsche für die nächste Pandemie?
Eine repräsentative Datenerhebung, wir sind da manchmal auch zu perfektionistisch, eine halbwegs repräsentative Datenerhebung, die zeitnah zur Verfügung gestellt wird und wo wir nicht Daten von ganz vielen verschiedenen Quellen zusammenbringen müssen, sondern die von vornherein gut aufgesetzt ist, das würde sehr helfen. Darauf könnte man Entscheidungen basieren. Bei einer Pandemie, in der Ansteckungsepidemiologie, sind die wichtigsten Daten sicherlich die Inzidenz, Hospitalisierungen, Todesfälle, möglicherweise der Immunitätsstatus. Es wäre aber auch wichtig, zumindest die Ansteckungsorte und das Kontaktverhalten zeitnah und anonymisiert zu bekommen.
Außerdem brauchen wir europäische Koordination. Wir haben viel gelernt über die Pandemie, indem wir über die europäischen Länder verglichen haben. Aber wir hatten das Problem, dass Hospitalisierungen in verschiedenen Ländern unterschiedlich definiert und gehandhabt werden. Es würde helfen, diese Definitionen zu vereinheitlichen, damit die Daten besser vergleichbar sind. Viele der Datenlücken kann man mit guter Datenwissenschaft füllen. Aber die Ergebnisse werden dadurch wesentlich schwerer nachvollziehbar für die Öffentlichkeit.
Eine Art Expertengremium zu den verschiedenen Themen, das rein wissenschaftlich zusammengesetzt ist, ist essenziell für das Vertrauen. Man sollte nicht nach Prominenz, nicht nach Politik, nicht nach Ergebnis dieser Gremien zusammenstellen, sondern immer rein nach Expertise.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum? Welche Daten würden Sie sich wünschen, um in der nächsten Pandemie daran forschen zu können, wie sich das Virus ausbreitet und verändert?
Was jetzt jeder erkannt hat, ist, dass Viren und Viruserkrankungen doch bedeutend sein können. Und dass man für dieses Forschungsgebiet natürlich auch eine konstante Förderung braucht. Aber nicht nur eine konstante Förderung, sondern eben auch gut ausgebildeten Nachwuchs. Also wirklich gut ausgebildete klinische Virologen zu haben und auch für die Forschung entsprechende Förderung, damit man zumindest versuchen kann, die Viren, die auf uns zukommen können, so gut wie möglich schon verstanden zu haben, bevor sie denn da sind.
Wichtig ist immer, dass man eine gute Grundlagenforschung hat. In dem Fall eine gute Grundlagenforschung zu den verschiedenen Virusklassen. Denn nur wenn man die verschiedenen Virusklassen verstanden hat, kann man eben auch entsprechend reagieren. Lassen Sie mich ein Beispiel nehmen: Die Impfstoffe waren ja deutlich besser als man initial erwartet hat aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht. Warum waren die besser? Weil es schon über Jahre hinweg zu dieser Klasse von Coronaviren Forschung gab und man sehr genau die Struktur der Viren kannte, sehr genau die Struktur der Oberflächenproteine kannte und deswegen einfach ein intelligentes Impfstoffdesign machen konnte. Aber natürlich auch, weil man über Jahre hinweg schon geforscht hatte zu verschiedenen Impfstoffplattformen. Braucht ein Impfstoff einen Wirkverstärker, braucht es keinen? Welche Art von Immunantwort brauche ich, um einen Schutz zu haben? Das sind alles Dinge, wenn ich die kenne, dann kann ich viel gezielter agieren, als wenn ich die eben nicht kenne und dann blind losschießen muss. Und wenn man das verstehen will, dann braucht es eben Grundlagenforschung. Und da braucht es Grundlagenforschung nicht nur im Labor, sondern auch mit Tiermodellen, weil man die Komplexität des Immunsystems einfach nur in Tiermodellen verstehen kann.
Drei Punkte wünsche ich mir: Der erste Punkt geht dahin, wir brauchen eine konstante Förderung von Grundlagenforschung, sowohl die Forschung in der Grundlagenvirologie, um die Virusstruktur und die Viren in Zellen zu verstehen, als aber auch die Forschung im Bereich des Immunsystems, und die kann man nur in Tiermodellen durchführen. Die Forschung in Tiermodellen muss hohen ethischen Ansprüchen genügen, aber sie muss möglich sein. Und die Strukturen, solche Forschungen durchzuführen, die müssen auch in Deutschland und in Europa erhalten bleiben. Nicht nur in Amerika und nicht nur in China, sonst begeben wir uns in eine ungesunde Abhängigkeit und schaden uns selbst. Aber wir sind im Moment leider auf dem Weg, dass wir einen Teil dieser Forschung in Deutschland sehr schwierig machen.
Der zweite Punkt auf meiner Wunschliste: Wir brauchen guten Nachwuchs. Die Ausbildung von gutem Nachwuchs heißt natürlich, dass wir zum einen erfahrene Personen brauchen, die sich dafür einsetzen. Wir brauchen aber auch attraktive Strukturen, um den Nachwuchs in diese Gebiete zu bringen, und da würde ich jetzt nicht nur die Virologie, sondern insgesamt die Infektionsforschung und die Infektiologie einschließen. Da ist schon einiges versucht worden, aber da gibt es sicherlich auch noch deutlich Luft nach oben. Auch wenn man jetzt wieder international schaut. Zum Beispiel ist der Infektiologe erst seit kurzer Zeit ein anerkannter Facharzt in Deutschland. Und es gibt wenige Positionen, die für eine Karriere in Frage kommen. Und das ist natürlich etwas, was die Ausbildung von gutem Nachwuchs einfach blockiert.
Der dritte Punkt, den es braucht, wenn man wissen will, was denn potenziell auf uns zukommen kann, ist das, was wir als Surveillance bezeichnen. Und zwar international, denn die Erreger kennen keine Grenzen, sondern treten halt irgendwo auf und verbreiten sich dann durch unseren intensiven internationalen Austausch sehr schnell, auch um die ganze Welt. Das heißt, es braucht international eine Surveillance und dafür braucht es eine Kultur der Zusammenarbeit und der Kommunikation, weil kein Land für sich allein diese Surveillance leisten kann. Das funktioniert mit einigen Ländern sehr, sehr gut, mit anderen Ländern leider nicht mehr gut. Traditionell war da auch mit den gesamten asiatischen Ländern ein sehr guter Austausch da und natürlich auch mit Ländern, die im Osten Europas sind. Aber da haben wir jetzt eben politische Probleme. Mit Russland ganz offensichtlich, aber leider ist im Moment auch die Situation mit China nicht ganz einfach. Da hoffe ich, dass wir wieder auf ein Niveau kommen, dass guter Austausch auf einer wissenschaftlichen Ebene möglich bleibt.
Wer müsste sich darum kümmern, dass dieser wissenschaftliche Austausch möglich bleibt?
Ich glaube, es geschieht besser aus der Wissenschaft heraus, weil Wissenschaftler es gewohnt sind, sich auszutauschen. Aber es darf natürlich auf der politischen Ebene nicht blockiert werden.
Nicht alle Wissenschaftler in Russland sind gleich schlechte Menschen. Trotzdem ist es politisch eben im Moment eigentlich nicht möglich, da weiterhin den Austausch zu haben. Und wenn irgendwas passieren würde in Russland, bin ich mir sicher, dass wir es nicht oder zumindest erst sehr spät mitbekommen würden. Und mit China ist das Verhältnis ja auch nicht gerade besser geworden. Das sind beides auch sehr große Länder, auch flächenmäßig sehr große Länder. Das heißt, wenn man an den Übersprung aus dem Tierreich denkt, dann ist da einfach auch die Fläche, wo es passieren könnte.
Hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verbessert?
Es haben sich im Moment leider Dinge eher verschlechtert. Wir haben schon vor etwa zehn Jahren angefangen, ein Global Virus Network aufzubauen, in dem sehr, sehr viele Länder der Welt, auch in Afrika, auch in Südamerika, beteiligt sind. Da war sehr guter Austausch auch mit russischen Wissenschaftlern möglich. Das ist deutlich schwieriger geworden.
Aber wenn man in Richtung Afrika denkt, da geht es eher sehr langsam, aber doch konstant aufwärts, und das sind gute Nachrichten.
Haben sich globale Sequenzierungsdatenbanken verbessert?
Dass die Daten ausgetauscht werden, das ist jetzt eigentlich nichts Neues. Aber es wird bei uns mehr sequenziert, auch weltweit mehr sequenziert, und es gibt natürlich auch neue Sequenziermethoden. Diese sogenannte Next Generation Sequenzierung, die man da jetzt einsetzen kann, um auch Erreger-Surveillance zu machen, zu beobachten, wie sich Erregerpopulationen verhalten, aber auch neue Erreger zu entdecken.
Müssen Daten besser digital erfasst werden?
Dass wir ein Verbesserungspotenzial in puncto Digitalisierung in Deutschland haben, ist glaube ich kein Geheimnis mehr. In der Coronapandemie ist das ja doch sehr offensichtlich geworden. Und nur wenn ich eine Digitalisierung bis in die Bereiche der Gesundheitsämter zum Beispiel hinein habe, kann ich Daten auch zentral auswerten. Ich muss sie erstmal erfassen, um sie nachher auswerten zu können. Also da gibt es auf jeden Fall im Gesundheitsbereich enormes Verbesserungspotenzial. Ich hoffe mal, das ist erkannt worden und da arbeitet man dran, aber da gibt es natürlich Nachholbedarf, da sind uns andere Länder weit voraus. Wenn man jetzt an Datenaustausch international denkt, dann ist es immer wichtig, dass man zum einen Datenformate hat, mit denen man sich austauschen kann. Also dass alle die gleiche Sprache sprechen, sonst versteht der eine Computer den anderen nicht. Zum anderen ist es aber auch wichtig, wie der Datenschutz jeweils interpretiert wird. Und da sind wir in Deutschland mit der Interpretation des Datenschutzes sehr vorsichtig. Da gibt es jetzt schon Wege, wie man auch unter dem Schutz persönlicher Daten Daten austauschen kann. Das setzt sich aber leider auch bei uns erst sehr langsam durch. Also da sind wir schon in Deutschland immer mit einem doppelten Sicherheitsgedanken unterwegs, oder einem dreifachen, und der blockiert dann natürlich auch schnell einmal den Fortschritt.
Welche konkreten Wünsche hätten Sie an das Bundesgesundheitsministerium?
Zum einen die Forschungsförderung. Die sollte, auch wenn man jetzt mehr Geld für Kriege ausgeben muss, nicht untergehen, die darf man einfach nicht kürzen. Der zweite Punkt: Die Digitalisierung voranzutreiben und den Datenschutz sinnvoll einzusetzen, auch im Gesundheitswesen. Man muss Daten erheben können, die Infrastruktur muss da einfach ausgebaut werden und da sein, aber dann eben auch auswerten dürfen. Unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes selbstverständlich, aber nicht einen Datenaustausch unter dem Deckmantel des Persönlichkeitsschutzes verhindern. Dann wird man da auch schneller und besser werden.
Was ist Ihnen zum Abschluss besonders wichtig?
Ich glaube, dass man insgesamt nicht aufhören darf, mit Menschen zu reden, nicht den Austausch unter Wissenschaftlern blockieren sollte, auch wenn man den anderen Staat nicht so mag. Wenn es Gesundheitsaspekte betrifft, macht es durchaus Sinn, die Kommunikation nicht komplett auf Eis zu legen.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Es gibt in Deutschland 14 Statistische Landesämter [https://www.statistikportal.de/de/statistische-aemter]. Eine Kollegin von mir hat neulich diese 14 Landesämter einzeln angeschrieben, um aktuelle nach Bundesland aufgeschlüsselte Daten zu beziehen. Diese Daten lagen noch nicht beim statistischen Bundesamt vor, da sie noch nicht von den Landesämtern übermittelt wurden. Das Anschreiben verschiedener Ämter kostete natürlich viel Zeit und die übersendeten Daten waren uneinheitlich.
Das Statistische Bundesamt ist in vielen Fällen ein Datenaggregator, das heißt es bereitet von den 14 Landesämtern übermittelte Daten auf und stellt sie harmonisiert zur Verfügung. Wenn es also Bedarf nach einem neuen Datensatz oder einer schnelleren Aufbereitung bestehender Daten gibt, so kann dieser Bedarf, strukturell bedingt, nicht allein vom Statistischen Bundesamt bedient werden, sondern es muss mit den 14 Landesämtern koordiniert werden.
Eine Mitarbeiterin des Statistischen Bundesamtes hat über diese strukturellen Probleme auch 2021 in relativ offener Form geschrieben. Das lohnt sich zu lesen: https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2021/03/gesundheitsstatistiken-corona-pandemie-032021.html
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
Zunächst einmal hoffe ich, dass wir keine bestehenden Datenquellen verlieren. Zeitnah gemeldete wöchentliche Todesfallzahlen z.B. wurden vor 2020 fast nirgendwo veröffentlicht, sind aber mittlerweile europaweit auch auf regionaler Ebene oder nach Alter verfügbar. Diese Datensätze zur Mortalität sind es, die uns Einblick erlauben, wo gerade außergewöhnlich viel gestorben wird. Wöchentliche Sterbefalldaten müssen aus dem Sonderstatus raus und Teil der regulären Berichterstattung der statistischen Ämter werden. Ich wäre sehr enttäuscht, müsste ich eines Morgens sehen, dass Sterbefälle wieder im jährlichen, anstatt im wöchentlichen Rhythmus veröffentlicht werden.
Daten sollten, wo auch immer möglich, mindestens nach Region und Alter getrennt aufgeschlüsselt bereitgestellt werden. Je detaillierter die Regionen und Altersgruppen, desto besser. Infektionskrankheiten treten in räumlichen Clustern und in bestimmten Altersgruppen auf. Demgegenüber dürfen wir nicht blind sein. Darüber hinaus ist die Stratifizierung nach Alter Grundlage fairer Vergleiche zwischen unterschiedlich alten Bevölkerungen (Ostdeutsche/Westdeutsche, Geimpfte/Ungeimpfte, etc.).
Die "Coronavirus Infection Surveys" [https://www.ons.gov.uk/surveys/informationforhouseholdsandindividuals/householdandindividualsurveys/covid19infectionsurveycis] im Vereinigten Königreich ist eine Studie, die ich mir auch für Deutschland im großen Maßstab wünschen würde. Aufgrund von Stichproben unter Freiwilligen werden Infektionszahlen ermittelt. Die so gewonnenen Daten liefern einen zuverlässigeren Einblick in die Ausbreitung des Virus als die übermittelten Zahlen der Testzentren, da im Survey symptomunabhängig getestet wird.
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Das Bereitstellen von Daten nach detaillierter Region, Geschlecht und Alter wird gelegentlich mit Datenschutzargumenten abgelehnt – besonders dann, wenn in einer Tabellenzelle nur einstellige Fallzahlen genannt werden. In so einem Fall könnte theoretisch eine De-anonymisierung vorgenommen werden. Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch schildern, dass verschiedene Statistische Landesämter verschieden mit dieser Thematik umgehen: so haben wir jüngst zur selben Anfrage verschieden detaillierte Tabellen aus den verschiedenen Landesämtern bekommen. Manche Landesämter haben auch Einzelfälle ausgewiesen, andere über mehrere Jahre grob aggregiert um Einzelfälle zu vermeiden und wieder andere haben die ungenaue Angabe "weniger als 5 Fälle" verwendet. Ich denke also, dass es durchaus Möglichkeiten gibt hier großzügiger zu teilen, aber vielleicht eine "defensive" Haltung vorherrscht – im Zweifel also eher Daten mit wenig Detail und hoher Aggregierung geteilt werden, damit man auf der "sicheren Seite" ist.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Mein Fokus liegt auf der Mortalität und hier habe ich eine enorme Beschleunigung und Ausweitung der Datenveröffentlichung erlebt. So gibt es mittlerweile in Deutschland eine im Monatsrhythmus veröffentlichte und aktuelle Todesursachenstatistik [https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/sonderauswertung-todesursachen.html] – ein unglaublicher Fortschritt gemessen an der jährlichen und um 6 Monate verzögerten Veröffentlichung vor der Pandemie. Europaweit gibt es regionale und aktuelle Daten zu Todesfällen – auch dies war vor der Pandemie nicht gegeben. Bei allen bestehenden Mängeln: die Bevölkerungsstatistik hat sich während der Pandemie enorm bewegt.
Stefan Scholz, wissenschaftlicher Koordinator des Modellierungsnetzes für schwere Infektionskrankheiten
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
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Der dringendste Wunsch wäre eine zeitnah aufgesetzte, repräsentative Seroprävalenz-Studie ähnlich zu den ONS-Daten in UK.
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Zeitnaher und einfacher Zugang zu Routinedaten der Krankenkassen bzw. Daten zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens (d.h. Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und ITS) sowie Sterbefälle sind natürlich ebenfalls wichtig zur Orientierung. Das erlaubt auch besser die Größe von vulnerablen Gruppen abzuschätzen.
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Routinemäßig erhobene Daten zum Kontaktverhalten der Bevölkerung. Mobilfunkdaten sind eine gute Ergänzung, aber Kontakte im Altenheim oder anderen spezifischen Settings sind damit sehr schwer abzubilden. Wir brauchen auch mehr Informationen, wie Kontakte außerhalb von Pandemien sind, damit wir die Wirkung von Maßnahmen in einzelnen Settings besser abschätzen können.
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Personenbezogene Impfdaten, auch und gerade von den Niedergelassenen
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
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Wir hatten solche Studien in Deutschland aber aus meiner Sicht zu spät und zu fragmentiert.
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Daran wird bereits gearbeitet, indem am Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit ein Forschungsdatensatz entsteht. Nur der Zugang muss niedrig-schwelliger werden.
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Hier ist einfach die Frage ob das eine Routineaufgabe bspw. des RKI sein sollte, oder ob sowas über Forschungsförderung erfolgen kann. Vielleicht kann so etwas auch in andere Panel wie dem Sozio-ökonomischen Panel aufgenommen werden.
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Eher gering, weil bestimmte Interessensgruppen etwas dagegen haben werden.
Hier sehe ich insgesamt wieder die Gefahr, dass Gelder eher in vermeintliche „silver bullets" wie Datenspende-App, Luca-App oder Corona Warn App gesteckt werden, anstatt „die Basics" zu fördern.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
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Federführung des HZI oder RKI mit Finanzierung durch BMBF oder BMG
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BMG
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RKI oder Universitäten je nach Ausgestaltung, ebenfalls BMG oder BMBF
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BMG und Kassenärztliche Vereinigungen
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
An der Datenlage hat sich vermutlich gar nicht so viel getan, in dem Sinne, dass viele Daten sowieso erhoben werden, aber nicht zusammengeführt waren. Positiv war aus meiner Sicht definitiv das DIVI-Register, der COVIMOD-Survey in Münster und MusPAD am HZI (https://hzi-c19-antikoerperstudie.de/en/results/). Ich will auch gerne nochmal das Engagement der Krankenkassen herausheben, die wirklich sehr bemüht und engagiert waren uns bei Fragen zu Risikogruppen und Long COVID zu unterstützen.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Ich sehe leider fast nur Nachteile. Es bedarf viel zu viel Abstimmung, um einheitliche Definitionen durchzusetzen, Datenbankstrukturen aufzusetzen sowie den Datenschutz zu klären. Und es ist sehr ineffizient 16 sub-optimale Datenbanken zu betreiben anstatt alle IT Fachkräfte an einer großen, an Nutzer*innen orientierten Datenbank zu bündeln, die dann ja auch Regionaldaten ausgeben können. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in der IT im öffentlichen Dienst.
Wie könnten Nowcasts, Forecasts und Modellierungen idealerweise aufgesetzt, genutzt und kommuniziert werden?
Aus meiner Sicht muss erstmal der Unterschied zwischen Prognosen und Szenarien-Modellierung stärker betont werden. Man kann das gleiche Modell für beide Zwecke nutzen, aber Prognosemodell brauchen in der Regel nicht zwingend so viel strukturelle Vorgaben. Idealerweise brauchen die Modelle vor allem APIs, d.h. definierte Schnittstellen zu den Daten, damit nicht unnötig Zeit mit der Beschaffung und Aufarbeitung von Daten verloren geht. Idealerweise stehen diese APIs auch allen offen, damit die Möglichkeit zur Modellierung nicht von persönlichen Kontakten zu Datenhaltern abhängt. Im Gegenzug wäre es schön, wenn alle Modellierungsgruppen ihre Ergebnisse sammeln und man die Modelle direkt nebeneinander vergleichen kann. So wie es Johannes Bracher mit den Nowcasts gemacht hat. In der Kommunikation würde ich mir wünschen, dass die Kommunikation sich auf das beschränkt, was die Modelle abbilden: Die absolute Entwicklung von epidemiologischen Fallzahlen über die Zeit (Prognose) oder die relative Entwicklung der Zahlen bei verschiedenen Interventionen (Szenarien). Es steht Modellierer*innen meiner Meinung nach nicht zu, Maßnahmen zu fordern. Modelle sollen Entscheidungsträgern nur helfen wahrscheinliche Entwicklungen und die Konsequenzen von Maßnahmen bezüglich epidemiologischer Fallzahlen abzuschätzen.
Welche Daten würden Sie sich konkret dafür wünschen, mit Modellierungen besser Informationen für die politische Entscheidungsfindung liefern zu können?
Daten eigentlich die gleichen wie bei 1. Was ich gut fände, wenn die Politik sich Expertenräte für Katastrophen a priori festlegt und nicht erst mit Eintritt des Ereignisses Experten zusammensucht und ohne Forschungsförderung sporadisch nach ihrer Meinung fragt. Auf diese Weise könnte man schon früher auf Wissenslücken hinweisen und gezielt vor Eintreten der Katastrophe schließen.
Wie würde dafür die Forschungsstruktur Ihrer Träume aussehen?
Ich würde mich an England orientieren: Ich fände es gut, wenn es 3-4 Zentren (RKI, HZI, Universitäten) in Deutschland gibt, die Modellierung betreiben, auch außerhalb von Pandemien. Es gibt genügend Forschungsfragen für endemische Erreger und auf diese Weise bleibt Modellierungswissen vorhanden, dass bei einer Pandemie schnell verfügbar ist. Diese Zentren sollten idealerweise mit Medizin, Öffentlichem Gesundheitsdienst, aber auch Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, usw. vernetzt werden.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
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Repräsentative Seroprävalenz-Studie ähnlich zu den ONS-Daten in UK; in regelmäßigen Abständen durchgeführt (alle 2 Monate?) bzw. als Panel-Studie.
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Zeitnaher und einfacher Zugang zu Routinedaten der Krankenkassen
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Personenbezogene Impfdaten, auch und gerade von den Niedergelassenen
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Altersspezifische Daten zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens (d.h. Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und ITS). So viel wie möglich davon in Echtzeit (IVENA-Daten) – Schnelligkeit der Datenbereitstellung ist wichtiger als Perfektion.
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Altersspezifische Sterbefälle mit Impfstatus, evtl. Vorerkrankungen in Echtzeit.
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Routinemäßig erhobene Daten zum Kontaktverhalten der Bevölkerung. Mobilfunkdaten sind eine gute Ergänzung, aber Kontakte im Altenheim oder anderen spezifischen Settings sind damit sehr schwer abzubilden. Wir brauchen auch mehr Informationen, wie Kontakte außerhalb von Pandemien sind, damit wir die Wirkung von Maßnahmen in einzelnen Settings besser abschätzen können.
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Informationen zu Kontaktnachverfolgungen: Wo stecken sich Personen an (inkl. "unbekannt"), und wie viele Personen müssen in Quarantäne/Isolation. Unterscheidung zwischen "Ansteckung im eigenen Haushalt bei Mitgliedern eigener Haushalt" und "Ansteckung im eigenen Haushalt bei Besuchern".
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Routinemäßig erhobene räumlich-verankerte Daten zur Einstellung (allgemeine Impfbereitschaft, Vertrauen in Wissenschaft, Vertrauen in Politik, Vertrauen in Medien)
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Mehr Sequenzierungsdaten von abgenommenen PCR-Tests (nicht notwendigerweise alle, aber z.B. einen bestimmten Prozentsatz pro Labor)
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Mehr und systematischere Sequenzierungsdaten von Abwasserproben aus geografisch verteilten Großstädten und aus dem ländlichen Bereich
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
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Viele Daten sind schon verfügbar, aber müssten schneller verfügbar und verknüpfbar sein
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Digitalisierung mit adäquater, automatischer Aggregation (und dadurch Anonymisierung) würde sehr helfen (oder differential Privacy Ansätze)
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Es ist immer dann realistisch, wenn keinerlei politische Interessen einer Institution oder individuellen Interessen des Datenhalters (bspw. hinsichtlich Publikationen) gegen die Weitergabe der Daten sprechen. Entsprechende Hürden müssen abgebaut werden.
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Für die Echtzeit-Steuerung der Pandemie geht Geschwindigkeit vor Perfektion. Hier muss sich eine entsprechende Einstellung entwickeln, dass Daten nicht erst z.B. nach der Bereinigung bereitgestellt werden, sondern sofort.
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In vielen Fällen reichen Stichproben, z.B. bestimmte Daten nur von allen Krankenhauseinweisungen, oder nur in bestimmten Städten oder Landkreisen. Auch hier muss sich eine Einstellung entwickeln, dass wir nicht immer eine Vollerhebung brauchen.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
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Letztlich muss der Gesetzgeber hier die Rahmenbedingungen schaffen, bzw. BMG oder BMBF entsprechende Initiativen aufsetzen.
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Für die Bündelung der Daten, zumindest aus dem Gesundheitsbereich, wäre eine Behörde wie das bereits aufgelöste DIMDI, das RKI oder auch das BfArM sicherlich geeignet. Aber auch wissenschaftliche Hubs wie das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) kommen dafür in Frage.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
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DIVI-Intensivregister
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Abwasser-Surveillance
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Nutzung von Mobilfunkdaten
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COVIMOD-Survey
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Nachteile:
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Bundesweite Daten bedürfen immer der Abstimmung von 16 Institutionen (+Bund)
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Ineffizienter Einsatz von IT-Fachkräften für 16 Datenbanken, statt 1 Datenbank
Vorteile:
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Möglichkeit einzelne Datenpartikel explorativ lokal begrenzt zu erheben
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Manche Länder (oder auch Kommunen) sind vorangegangen, ohne auf den Bund zu warten.
Wie könnten Nowcasts, Forecasts und Modellierungen idealerweise aufgesetzt, genutzt und kommuniziert werden?
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Besseres Verständnis von Prognose und Szenarienmodellen und deren Nutzen für Entscheidungsträger*innen
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Mehr Input von Entscheidungsträgern hinsichtlich der zu modellierenden Handlungsoptionen
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Bessere Schnittstellen (APIs) für Datenflüsse in Modelle
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Plattformen für Ensemble-Modellierung, Vergleiche von Modellen bzw. eine zentrale Institution, die eine vernünftige Auswahl der (jeweils aktuellen) "state-of-the-art" Modelle implementiert, pflegt und erweitert - und im Krisenfall mit allen verfügbaren Daten füttern bzw. bedienen kann. Das ausreichend dimensionierte Personal sollte aus Leuten bestehen, die "wissenschaftlich nichts erreichen müssen / wollen" - damit die sich voll auf diese Aufgabe konzentrieren." ("Lagezentrum")
Welche Daten würden Sie sich konkret dafür wünschen, mit Modellierungen besser Informationen für die politische Entscheidungsfindung liefern zu können?
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Klärung von Zuständigkeiten bzw. Prozessen in der Politik (wer wird gerade von wem beraten?)
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Klarer Kommunikationskanal über den Entscheidungsträger ihre Fragen an Modellierungs-Teams stellen können
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Eine klare Definition und Kommunikation der gewählten Strategie - soweit das zu den jeweiligen Zeitpunkten möglich ist
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Ein guter Plan von einem Prozess, der es erlaubt, ExpertInnengremien fachlich (und nicht politisch) zusammenzusetzen
Entweder:
- Festlegung von multi-disziplinären Expertengremien vor dem Eintreten von Katastrophenszenarien (ähnlich zu SAGE in UK)
Oder:
- Ein guter Plan von einem Prozess, der es erlaubt, ExpertInnengremien fachlich (und nicht politisch) zusammenzusetzen
Wie würde dafür die Forschungsstruktur Ihrer Träume aussehen?
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Trennung zwischen Daueraufgaben (z.B. Datenaufbereitung, Vernetzung) mit solider Grundfinanzierung an Institutionen (wie RKI, BfArM, etc) und Forschungsprojekten mit Projektfinanzierung (an Forschungseinrichtungen, Universitäten)
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Anschubfinanzierung von 3-4 Forschungszentren an Universitäten, die Forschung und Lehre zu infektionsepidemiologischer Modellierung etablieren
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Diese Zentren sollten mit einem "Lagezentrum" (siehe Kommentar oben) zusammenarbeiten müssen, damit der Technologietransfer gegeben ist.
Die Datenlage hat sich in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert. Das Infektionsschutzgesetz wurde überarbeitet, die Regelungen zum Meldewesen nachgeschärft, die Aufgaben des Robert Koch-Instituts ausgeweitet, die Verpflichtung zur Daten-Erfassung präzisiert. Auch bei der Präsentation der Daten sind deutliche Verbesserungen erzielt worden (Pandemieradar, RKI-Berichte, öffentliche Daten des Divi-Registers…usw.):
- Durch das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) wurden wesentliche Fortschritte im Meldewesen erreicht.
Inzwischen melden alle Labore Sars-CoV-2-Nachweise sowie weitere meldepflichtige Erregernachweise elektronisch an die Gesundheitsämter. Ebenso melden die Krankenhäuser Hospitalisierungen in Bezug auf SARS-CoV-2 sowie täglich die Angaben zur Kapazitätsauslastung auf Normalstationen. Das ergänzt die Erfassung der Auslastung der Intensivstationen, um ein ganzheitliches Bild der Auslastung in der stationären Versorgung zu erhalten. Zudem werden diese Daten im Pandemieradar veröffentlicht.
Über DEMIS können auch Arztpraxen oder Apotheken sowie Testzentren positive SARS-CoV-2-Schnelltestergebnisse elektronisch übermitteln.
In den nächsten Ausbaustufen werden u. a. auch weitere Melde- und Benachrichtigungspflichtige, wie z. B. Kindertagesstätten oder Sammelunterkünfte, angebunden.
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Die syndromische Surveillance am RKI mit den drei Bereichen GrippeWeb, ARE-SEED und ICOSARI wurde im Zuge der Pandemie umfassend überarbeitet und ausgebaut, ein weiterer Ausbau ist geplant.
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Ein wichtiger Indikator für die Auslastung des Gesundheitssystems ist auch das DIVI-Intensiv-Register, deren Meldung seit April 2020 gesetzlich verpflichtend ist.
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Mit dem Pandemieradar stehen umfangreiche Statistiken und Trends zu allen wichtigen Indikatoren des Infektionsgeschehens, der Krankheitsschwere und der Belastung des Gesundheitssystems zur Verfügung, die bei einer erneuten Pandemie ebenfalls eine Rolle spielen können. Diese werden bereits offen bereitgestellt und transparent gemacht.
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Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) wurde vom Bund nachhaltig gestärkt. Personal und Ausstattung wurden verbessert.
(Pakt für den ÖGD, Einrichtung der ÖGD-Kontaktstelle beim RKI). Mit der Digitalisierung der Gesundheitsämter soll die Arbeit des ÖGD effizienter gestaltet und Verfahren beschleunigt werden. Dafür wurde ein digitales Reifegrad-Modell für den ÖGD entwickelt und Fördermaßnahmen des Bundes durchgeführt.
Geplant ist außerdem:
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Der Aufbau eines Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit. Dadurch sollen die Strukturen des ÖGD Öffentlichen Gesundheitsdienstes auf allen Ebenen noch weiter gestärkt werden.
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Eine Digitalisierungsstrategie, die verknüpft ist mit entsprechenden Digitalisierungsgesetzen. Dadurch soll u.a. die wissenschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten von Gesundheitsdaten als auch die Datennutzung als Grundlage für Innovationen im Gesundheitsbereich in Einklang mit der DSGVO verbessert werden.
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Der Aufbau eines europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS), der u.a. den Zugang zu Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation und die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung auch grenzüberschreitend ermöglichen soll. Das BMG unterstützt entsprechende Pläne der EU-Kommission.
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Die Weiterentwicklung der Telemedizin. Bereits in den Jahren vor Beginn der Corona-Pandemie wurde die Anwendung verschiedener telemedizinischer Leistungen gesetzlich gestärkt (zum Beispiel die Vereinfachung der Durchführung von Videosprechstunden oder die Ausweitung von Telekonsilien). Die Nutzung der Videosprechstunde hat in Pandemiezeiten stark zugenommen. Die Entwicklung der Fallzahlen in den vergangenen Jahren verdeutlichen die Akzeptanz eines gezielten Einsatzes der Videosprechstunde in der vertragsärztlichen Versorgung. Der Koalitionsvertrag für die Jahre 2021-2025 sieht vor, dass auch in den kommenden Jahren telemedizinische Leistungen, inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und telenotärztliche Versorgung, regelhaft ermöglicht werden.
Grundsätzlich zum Thema Daten:
Bundesminister Wissing hat sich u.a. im Rahmen eines Gastkommentars im Handelsblatt klar dafür ausgesprochen, dass mehr und bessere Daten verfügbar gemacht werden. Daten sind etwa die Grundlage für die Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle. Der Staat soll dabei mit gutem Beispiel vorangehen und seine Daten für kommerzielle, allgemeinwohlorientierte und Forschungszwecke öffnen. So werden z. B. nun erstmals Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes für die Wissenschaft angeboten.
Den Gastbeitrag finden Sie hier: https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-wir-wollen-daten-fuer-innovative-geschaeftsmodelle-nutzbar-machen/28303558.html; Zum Forschungsdatenzentrum im KBA: https://www.kba.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Allgemein/2022/pm21_2022_FDZ.html
Dies findet sich auch in der Digitalstrategie wieder, in der die Verfügbarkeit von Daten ein zentrales Thema und ein wichtiges Hebelprojekt ist. So sollen u.a. Datenräume miteinander vernetzt und mehr staatliche Daten bereitgestellt werden. Zudem unterstützt das BMDV ganz konkret die bessere Verfügbarkeit von Mobilitätsdaten, etwa durch den Mobility Data Space und die Mobilithek. So müssen seit dem 1. Juli 2022 durch die Mobilitätsdatenverordnung Echtzeitdaten etwa aus dem ÖPNV über die Mobilithek bereitgestellt werden. Mit diesen Informationen können etwa Verkehre künftig effizienter und nachhaltiger gesteuert werden. Sie sind außerdem die Basis für die Entwicklung von Mobilitäts-Apps, mit denen die Menschen ihre Wege bedürfnisgerecht planen können.
In der Sars-CoV-2-Pandemie war die Datenqualität auch häufig deswegen ungenügend, weil die Datenerfassung und Meldeketten nicht digitalisiert waren. Wie sähe aus Sicht des Bundesministeriums für Digitales die perfekte digitale Datenerfassung aus?
Die Position des BMDV ist ganz klar: digital only. Das heißt, die ideale digitale Datenerfassung, ist wirklich digital - von Anfang bis Ende. Es darf keine Medienbrüche geben, wie wir sie zum Teil heute noch sehen - etwa wenn ein Dokument eingescannt und per E-Mail weitergesendet wird. Wir brauchen standardisierte Prozesse, die voll digitalisiert sind. Nur so werden die Abläufe schneller, besser und effizienter. Dies ist gerade bei Ereignissen wie einer Pandemie, bei der schnell viele Daten erfasst und verarbeitet werden müssen, essenziell.
Zu den Projekten aus der Digitalstrategie der Bundesregierung für den Gesundheitsbereich finden Sie hier weitere Informationen: https://digitalstrategie-deutschland.de/gesundheit-und-pflege/
Eine Erkenntnis aus der Corona-Pandemie ist, dass in unterschiedlichen Phasen der Pandemie teilweise ganz unterschiedliche Daten- und Erkenntnisanforderungen relevant waren. Als Beispiel: In der Frühphase der Pandemie mit wenig vorhandener persönlicher Schutzausrüstung und einem noch nicht vorhandenen Impfschutz war es notwendig, die Datenerhebung in viel stärkerem Maße auf das Ziel der Unterbrechung von Infektionsketten auszurichten, als in einer späteren Phase unter den Bedingungen des mutierten Omikron-Virus. In dieser späteren Phase waren Fallzahlen im Vergleich zur Frühphase teilweise um den Faktor 50 erhöht, trafen jedoch glücklicherweise zugleich auf einen deutlich höheren Immunisierungsgrad in der Bevölkerung.
Dieses Schlaglicht soll deutlich machen, dass die Vorbereitung auf eine mögliche erneute Pandemie einen ganzheitlichen Ansatz verlangt, der über konkrete Anforderungen an spezifische Einzeldaten/ein vordefiniertes Datenset hinausreicht. Für einen effizienten und einheitlichen Meldeweg von Infektionskrankheiten ist der bundesweite Ausbau des IT-Systems DEMIS vordringlich und zentral. Es bedarf der digitalen Anbindung aller Akteure im Gesundheitswesen an das System sowie ggf. weiterer Institutionen, die für die Meldung von Infektionskrankheiten zuständig sind. Nur so können die Daten auf allen Ebenen zeitnah und effizient verarbeitet werden. Zugleich muss das System für pandemische Zeiten schnell und unkompliziert skalierbar sein, sollte es für weitere Akteure gebraucht werden (z.B. Testzentren). Dies zu erreichen, ist vordringlich die Aufgabe des Bundes.
Für den konkreten Verantwortungsbereich des MAGS ist es hier unter anderem eine zentrale Aufgabe, zukunftsfähige Strukturen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu schaffen. Um die aktuellen Erfahrungen aus der Pandemie aufzugreifen und die Aufgaben des Gesundheitsschutzes noch effektiver erfüllen zu können, haben Bund und Länder dazu den „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)" beschlossen. Dieser hat das Ziel, den Öffentlichen Gesundheitsdienst in seiner ganzen Aufgabenvielfalt und auf allen Verwaltungsebenen zu stärken und zu modernisieren. Weitere Ausführungen zu den im Sinne der Fragestellung relevanten Themenfeldern "Digitalisierung" sowie „Kommunikation" sind dem Wortlaut des Paktes für den ÖGD sowie den Berichten des Beirats zum Pakt ÖGD zu entnehmen (Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst | BMG (bundesgesundheitsministerium.de).
Auch künftige, noch nicht absehbare pandemische Herausforderungen werden u.U. ganz andere spezifische Fragestellungen und Informationsbedürfnisse in den Fokus rücken. Nur ein auf allen Ebenen personell, technisch und organisatorisch gut aufgestellter Öffentlicher Gesundheitsdienst kann dazu beitragen, flexibel und lageangepasst zu reagieren, eine solide Datenbasis für politische Entscheidungen zu generieren und dem Informationsbedürfnis von Presse und Öffentlichkeit Rechnung zu tragen.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
Die Fragen 1 bis 3 werden zusammen beantwortet:
Grundsätzlich gilt: Welche Daten zum Management einer kommenden Pandemie nötig sind, kann man im Detail erst sagen, wenn man weiß, um welchen Erreger es sich handelt. Hierbei spielt auch der Übertragungsweg eine wichtige Rolle. Denn der Übertragungsweg ist beispielsweise bei Infektionen wie HIV anders als bei einer Atemwegserkrankung.
Davon unabhängig ist wichtig, dass man nicht nur Daten zum akuten Infektionsgeschehen erhebt (Fallzahlen, Hospitalisierungen, Erregertypen, Krankheitsschwere, Risikogruppen usw.), sondern auch Daten über die Spätfolgen der Infektion, über die ergriffenen Maßnahmen (Tests, Impfungen, usw.), die Kapazitäten und Auslastung des Versorgungssystems (Betten usw.). Nicht zuletzt sind Daten über gesellschaftliche und soziale Auswirkungen notwendig (z. B. zu Krankenständen in der kritischen Infrastruktur, zu psychosozialen Folgen, Einstellungen der Bevölkerung usw.). Einige dieser Daten braucht man sehr zeitnah, manche auf kleinräumiger Ebene, manche personenbezogen. Manchmal geht es um einfache Meldedaten, manchmal um Daten zur Bildung weiterführender epidemiologischer Kennziffern – auch das hängt mitunter von der Art der Infektion ab. Letztlich geht es bei alldem darum, möglichst situationsangemessen handeln zu können.
In Bayern ist es gelungen, gemeinsam mit vielen verschiedenen Akteuren, u. a. den Gesundheitsämtern, dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), den Krankenhäusern und Laboren eine solide Datenbasis aufzubauen, um die Lage gut einschätzen zu können. Dazu gehört auch eine sehr gute virologische Überwachung („Surveillance"), die während der Corona-Pandemie im Freistaat ausgebaut wurde. Das LGL stellt auf seiner Homepage zentrale epidemiologische Kennzahlen dar, z. B. zur Verteilung der Infektionen und Todesfälle in der Bevölkerung (z. B. nach Alter, Geschlecht oder im Zeitverlauf), zu Hospitalisierungen (z. B. Hospitalisierungsinzidenz, Bettenbelegung) oder Laboruntersuchungen. Hinzu kommt eine Veröffentlichung von Daten aus dem Verbundprojekt des LGL mit den bayerischen Universitätskliniken Bay-VOC zu Virusvarianten und aus dem Abwassermonitoring.
Das LGL veröffentlicht zudem regelmäßig die Daten einer Stichprobe zur Erfassung von akuten Atemwegserkrankungen in Bayern (Bayerisches Influenza Sentinel BIS+C; www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/influenza/influenza_zahlen.htm#bis).
Die bayerischen Abwasserdaten werden auch an die Bundesebene für das nationale Monitoring („Pandemieradar" des Robert Koch-Instituts - RKI) weitergeleitet. Das Pandemieradar fasst bundesweit Daten zum Infektionsgeschehen zusammen, wie beispielsweise die 7-Tage-Inzidenz, den Anteil positiver SARS-CoV-Tests, die wöchentliche Inzidenz der Arztkonsultationen wegen einer neu aufgetretenen akuten Atemwegserkrankung, Hospitalisierungen in Bezug auf SARS-CoV-2 und Auslastung der Intensivstationen mit COVID-19 Fällen.
Viele Daten werden aufgrund der in der Pandemie neu geschaffenen Meldepflichten generiert. Sowohl das RKI als auch das LGL werten bspw. Daten aus, die sich aus der Meldepflicht nach dem Infektionsschutzgesetz (§§ 6-7 IfSG) ergeben. Die Meldepflicht nach § 6 wurde sodann auf Hospitalisierungen in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit erweitert. Für den stationären Bereich bestehen weitere Pflichten zur Meldung von Bettenkapazitäten. In Bayern wurden zudem die Labore verpflichtet, die Zahl der durchgeführten und der positiven Tests zu übermitteln.
Diese grundsätzlichen Strukturen und Erfahrungen können in der nächsten Pandemie genutzt werden. Die dabei zu erhebenden Daten müssen für die jeweilige Situation passend und wissenschaftlich fundiert sein, sodass ein umfassendes Lagebild vorhanden ist.
Eines ist aber auch zu beachten: Nach den steten Vorgaben insbesondere des deutschen Datenschutzes ist eine Datenerhebung nur unter engen Voraussetzungen möglich, Gesundheitsdaten des Einzelnen stehen dabei unter besonderem Schutz. Das Persönlichkeitsrecht der von der Pandemie betroffenen Menschen setzt der Datenerhebung Grenzen.
Klar ist auch: Bei einer Pandemie handelt es sich um ein komplexes Geschehen, daher ist zur Bewertung der jeweils aktuellen Lage eine Vielzahl verschiedener Parameter erforderlich. Um bestimmte Daten erheben zu können, mussten zunächst auch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Daten, die die epidemiologische Lage beschreiben, standen in der Corona-Pandemie bereits sehr früh zur Verfügung, sie stellen allerdings nur einen Teil der relevanten Erkenntnisse dar und müssen immer in einen Gesamtkontext eingebettet werden. Als das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 auftrat, lagen jedoch nur wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu dem Erreger selbst und seinen Eigenschaften und Wirkungsweisen vor - und die Unsicherheiten waren groß. Die Daten und Erkenntnisse konnten schrittweise durch Studien aufgebaut werden. Die Publikation wissenschaftlicher Erkenntnisse beruht auf evidenzbasierten, umfassenden Forschungen, die notwendigerweise erheblichen Vorlauf benötigen, und findet daher stets erst zeitverzögert statt. Diese Erkenntnisse stehen in infektiologischen Krisensituationen, in welchen schnelle Entscheidungen und präventive Empfehlungen erforderlich sind, leider oft nicht frühzeitig zur Verfügung.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Durch die Corona-Pandemie sind an vielen Stellen Datenflüsse verbessert worden, vom Infektionsschutzgesetz (IfSG)-Meldewesen über die Daten aus den Krankenhäusern über die amtlichen Sterbedaten bis hin zur Erfassung von psychosozialen Aspekten durch repräsentative Surveys.
Im Zuge der Corona-Pandemie ist durch Änderung des IfSG beispielsweise die verpflichtende Nutzung des Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems für den Infektionsschutz (DEMIS) in Teilen vorgezogen worden. Bei Verwendung dieser einheitlichen digitalen Lösung, an die alle bayerischen Gesundheitsämter angeschlossen sind, stehen nach dem IfSG vorgeschriebene Meldungen (beispielsweise von Laboren, Ärzten oder Testzentren) dort elektronisch zur Verfügung. Damit entfallen vorher notwendige Aufwände zur Digitalisierung der einzelnen Meldungen, wodurch pandemiebezogene Daten schneller verfügbar sind.
Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) hat im vergangenen Jahr zusammen mit dem LGL ein umfassendes Monitoring des Infektionsgeschehens und eine starke virologische Überwachung hinsichtlich des Coronavirus SARS-CoV-2 etabliert, die auf drei Säulen steht. Mit dem Abwassermonitoring, der Erfassung von Atemwegserkrankungen in einem dichten Netz von Arztpraxen und den molekularbiologischen Analysen und Infektionsdaten aus dem Verbundprojekt Bay-VOC, in dem die bayerische Universitätsmedizin und das LGL zusammenarbeiten, wurde in kurzer Zeit viel erreicht. Das hilft nicht nur, neue Corona-Infektionswellen frühzeitig zu erkennen, sondern auch im Umgang mit anderen Viren.
Das Überwachungssystem ist breit aufgestellt. Mit dem Abwassermonitoring geht Bayern einen neuen, aus wissenschaftlichen Pilotprojekten entwickelten Weg, in dem auch Umweltdaten einbezogen werden, um zusätzliche Informationen über die öffentliche Gesundheitslage zu erhalten. Hier nutzt die Staatsregierung mittlerweile Abwasserdaten aus allen Regierungsbezirken Bayerns. Damit steht Bayern im Bundesvergleich mit an der Spitze. Das Abwassermonitoring ergänzt die etablierten Kennzahlen des Pandemiemonitorings und liefert zusätzliche Erkenntnisse zur Entwicklung des Infektionsgeschehens.
Deutlich ausgebaut wurde auch die sogenannte syndromische Surveillance, also die Charakterisierung der ursächlichen Infektionserreger bei Menschen mit Atemwegsinfektionen in einem Netz von knapp 200 Arztpraxen („Sentinelpraxen") im Freistaat, die zusammen mit der Überwachung der SARS-CoV-2-Infektionen und Varianten bei Patientinnen und Patienten in den Universitätskliniken wichtige Informationen liefert.
Die Verordnung zur Krankenhauskapazitätssurveillance verpflichtet die Krankenhäuser darüber hinaus zur täglichen Übermittlung ihrer Normalpflegekapazitäten über DEMIS an das RKI. Zudem haben die Krankenhäuser ihre Intensivkapazitäten an das DIVI-Intensivregister des RKI über die Weboberfläche des DIVI IntensivRegisters zu melden.
Zudem wurde das IT-gestützte Tool IVENA, welches bereits von einem Großteil der bayerischen Integrierten Leitstellen und Kliniken zur Patientensteuerung genutzt worden war, um eine „Sonderlage" erweitert, um rasch einen Überblick über verfügbare Bettenkapazitäten sowie deren Auslastung und regionale Verteilung zu gewinnen. Alle bayerischen Krankenhäuser und Einrichtungen der Vorsorge und Rehabilitation wurden mittels Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und des StMGP verpflichtet, hierüber täglich das Vorhandensein sowie den Auslastungsgrad ihrer normalpflegerischen wie auch intensivmedizinischen Kapazitäten zu melden.
Das IVENA-Modul „Sonderlage" wurde seit Inkrafttreten der entsprechenden Meldeverpflichtung bis heute in einem über inzwischen beinahe drei Jahre andauernden Prozess von verschiedenen fachlich Beteiligten als probates Instrument zum Monitoring der Krankenhauskapazitäten etabliert. Immer wieder wurden und werden Definitionen nachgeschärft, Prozesse optimiert und diverse Auswertungsmethoden entwickelt, sodass IVENA aus fachlicher Sicht einen verlässlichen Überblick über die jeweilige Auslastungssituation der bayerischen Kliniken und somit eine belastbare Datenbasis für weiterführende diesbezügliche Entscheidungen liefert, was, verglichen mit der Ausgangssituation im Jahr 2020, eine deutliche Verbesserung der diesbezüglichen Datenlage darstellt.
Das StMGP verwendet zu Zwecken der internen Steuerung und Koordination daher überwiegend Zahlen des IVENA-Tools, die neben der Information der Krisengremien in Bayern auch der Koordination des Rettungseinsatzbetriebs dienen. Die Daten aus IVENA bieten dem StMGP überdies eine wesentlich größere Datenfülle als die von dem DIVI-Intensivregister veröffentlichten Daten, dessen Rohdaten insbesondere auf krankenhausindividueller Ebene dem StMGP nicht zur Verfügung gestellt werden.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Eine regionale Erhebung von Daten ist an vielen Stellen essenziell. Daten nach dem IfSG werden z. B. zur Überwachung von meldepflichtigen Erkrankungen erhoben. Die Gesundheitsämter bewerten die gemeldeten Daten, fassen ggf. nach und ergreifen bei Bedarf entsprechende Maßnahmen auf lokaler Ebene. Dies wäre überregional so nicht leistbar. Die Daten gehen nach der Validierung dann über das LGL an das RKI. Dort findet eine überregionale Überwachung statt. Durch die technischen Möglichkeiten hat sich diese Meldekette bereits beschleunigt.
Nicht etwa die hierarchische Struktur, sondern die Einheitlichkeit im Datenstandard und ggf. in der eingesetzten Software macht die Meldekaskade problemlos. Insbesondere die neue Meldesoftware DEMIS des RKI kann hier die notwendige Vereinheitlichung gewährleisten, sofern sie nicht nur den Meldeweg, sondern auch die meldeassoziierten Prozesse vor Ort (z. B. Kontaktpersonennachverfolgung) integriert.
Welche Bestrebungen gibt es, die Datenerhebung (etwa in Gesundheitsämtern oder Kliniken) zu verbessern sowie eine schnellere Datenübermittlung und Auswertung zu gewährleisten?
Bayern treibt derzeit eine Vielzahl umfassender Maßnahmen im Kontext der digitalen Transformation voran – sowohl auf Ebene der Gesundheitsbehörden als auch im landesweiten bzw. länderübergreifenden Kontext (vgl. www.stmgp.bayern.de/presse/holetschek-76-millionen-euro-fuer-die-digitalisierung-der-bayerischen-gesundheitsbehoerden/). Diese Vorhaben fügen sich inhaltlich in die in der „Rahmenstrategie Digitalisierung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst" beschriebenen Ziele und Maßnahmen ein. Bayern nimmt damit eine Vorreiterrolle ein.
Wesentliche Aspekte im Kontext der laufenden Bestrebungen sind u. a. die Harmonisierung von Prozessen sowie die Förderung der Interoperabilität bzw. die Nutzung einheitlicher Standards. Diese Maßnahmen tragen insgesamt zu einem noch stärker datengetriebenen Agieren der Gesundheitsbehörden bei und ermöglichen etwa auch den Einsatz umfassenderer Analyse- und Prognosetools. Im Bereich des Infektionsschutzes wurden in den letzten Jahren bereits weitestgehend digital abgebildete Prozesse etabliert, unter anderem zur volldigitalisierten Kontaktpersonennachverfolgung im Rahmen der Corona-Pandemie sowie zur digitalen Bearbeitung von Meldungen nach dem IfSG.
Insbesondere zur Entlastung der Krankenhäuser macht sich das StMGP zudem auch weiterhin für die Vereinheitlichung und Vereinfachung der genannten Meldewege stark. Bereits im Jahr 2020 wurde die Schaffung einer Schnittstelle zwischen IVENA und DIVI seitens verschiedener Bundesländer - darunter auch Bayern - angestrebt, was bislang allerdings erfolglos blieb. Das StMGP forderte das Bundesgesundheitsministerium zudem wiederholt zu einer zeitnahen und vollfunktionsfähigen Anbindung der Krankenhäuser an das Melde- und Informationssystem DEMIS auf, sodass ein technisch reibungsloser und automatisierter Ablauf bei der Abgabe von Meldungen gewährleistet werden kann.
Wie sieht für Sie die perfekte Meldekette von in einer Pandemie relevanten Daten aus?
Für meldepflichtige übertragbare Krankheiten und meldepflichtige labormedizinische Nachweise von Krankheitserregern legt das IfSG den Weg der Meldungen fest. Auch wenn es während der Corona-Pandemie aufgrund des extrem hohen Infektionsgeschehens zeitweise zu Verzögerungen kam, haben sich diese Meldewege doch bewährt und stellen hinsichtlich der Erfassung von Fallzahlen ein bundesweit einheitliches Vorgehen sicher.
Gute Datenflüsse sind allein aber nicht alles, notwendig ist auch immer fachkundiges Personal, von Laborfachleuten, die Untersuchungen durchführen können, über Ärztinnen und Ärzte, die noch Zeit zum Dokumentieren ihrer Fälle haben, IT-Spezialistinnen und -spezialisten, die Datenwege schnell anpassen können, bis hin zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Daten auswerten oder ad hoc Befragungen durchführen können. Darüber hinaus ist auch die fachlich korrekte Interpretation der jeweiligen Daten essentiell, d. h. eine fundierte Kenntnis über deren Aussagekraft und Verlässlichkeit, so dass es um weit mehr geht als nur um den reinen Austausch und die Verfügbarkeit von Daten.
Wie wollen Sie gewährleisten, dass in der nächsten Pandemie mehr Informationen darüber vorliegen, welche Bevölkerungsgruppen wie stark davon betroffen sind?
In Verlauf der Corona-Pandemie konnten immer mehr Informationen zur Betroffenheit bestimmter Bevölkerungsgruppen – z. B. auf Basis verschiedener Daten und in Studien – gewonnen werden. Die Meldedaten nach dem IfSG können z. B. Auskunft über die Betroffenheit älterer, vulnerabler Menschen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung geben. Klar ist: Tritt ein neuartiger Erreger auf, müssen viele Informationen erst neu gewonnen werden und sie können sich im Zeitverlauf durch neue Rahmenbedingungen – z. B. den Impffortschritt oder eine Mutation des Virus – ändern.
Ein wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung ist auch die Kommunikation von Daten. Planen Sie, in Zukunft mehr offene Daten zu teilen und transparent zu machen, auf Basis welcher wissenschaftlichen Erkenntnisse und Beratungen Entscheidungen getroffen werden?
Das bayerische Gesundheitsministerium hat bereits mit dem Start der Corona-Pandemie alle Maßnahmen mit möglichst umfangreichen Informationen verbunden. Insbesondere war es unser Ziel, den Bürgerinnen und Bürgern zu erläutern, warum bestimmte Schritte notwendig sind.
Klar ist dabei: Die Verfügbarkeit von Daten hängt unmittelbar mit den über den Erreger verfügbaren Informationen zusammen sowie den technischen Schnittstellen und deren Anpassungsfähigkeit und der benötigten Fachexpertisen.
Die meisten Daten zu SARS-CoV-2 sind und waren öffentlich zugänglich oder wurden öffentlich zugänglich gemacht. Unter anderem stellt das RKI verschiedene Daten bspw. in seinem Dashboard, dem Pandemie-Radar oder als Rohdaten zur Verfügung, wertet die Daten aus und erläutert die Ergebnisse umfassend in seinen Berichten – und dies schon zu Beginn der Corona-Pandemie.
In Bayern wurden bereits zu Beginn mit den gemeldeten Infektionszahlen erste verfügbare Daten unmittelbar öffentlich auf der LGL-Homepage dargestellt. Der Umfang der kommunizierten Daten konnte dann wieder anhand neuer verfügbarer Informationen, weiter ausgebaut werden. So folgte beispielsweise die Zahl der Laboruntersuchungen auf SARS-CoV-2 in Bayern, Bettenbelegungen, Impfquoten etc. Im Rahmen der Kommunikation war auch die sofortige Einrichtung einer Corona-Hotline am LGL (bundesweit eine der ersten) ein wichtiger Schritt im zur Information der Öffentlichkeit. Weitere Daten waren bei der ECDC, der europäischen Behörde oder natürlich auch bei der WHO sichtbar. Grundlage waren auch die Gutachten von Expertengremien z. B. der Leopoldina, die auch veröffentlicht waren.
Erläutert wurden außerdem die Hintergründe für die in Bayern ergriffenen Maßnahmen sowohl in der Begründung zur Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung als auch in zahlreichen Pressemitteilungen, auf Pressekonferenzen sowie im Zusammenhang mit parlamentarischen Anfragen.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
- Automatisch zusammengeführte Falldaten (1. Test, Retestung, Neuinfektion ein- und derselben Person)
- Vollständige digitale Kontaktdaten der Bürger*innen mit integrierter digitaler und einheitlicher Adressvervollständigung aus den Laboren / Testzentren / Arztpraxen
- Eine Patient*innen-Plattform zur Vervollständigung der Kontaktdaten mit Daten zu Vorerkrankungen, Symptom-Tagebüchern und einem Datenaustausch mit der Schnittstelle zur Meldesoftware
- Bundesweit/europaweit einheitliche und kompatible Datenerhebung mit der Möglichkeit des Datenaustausches und der Datenzusammenführung, um valide Entscheidungen abzuleiten – lokal, national und international
- Regelmäßige Daten aus dem Abwassermonitoring
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
- Wenn die aktuell in Aussicht gestellten Fördermittel für die Digitalisierung richtig eingesetzt werden, halten wir sie für realistisch, einige dieser Projekte sind ja bereits angeschoben (Beispiel Pilotprojekt Abwassermonitoring).
- Sie sind auch über den Förderzeitraum hinaus realistisch, wenn Projekte / hohe Standards / bestehende Strukturen aufrechterhalten und gegebenenfalls weiter ausgebaut werden.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
- Die Realisierung ist Aufgabe der Bundes. Die Umsetzung müsste zentral gesteuert werden, es darf keine landespezifischen Lösungen geben. Dabei müsste die heterogene ÖGD Landschaft berücksichtigt und einbezogen werden mit gegebenenfalls Sicherstellung einer medienbruchfreien Schnittstellenstruktur.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
- Das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) hat sich verbessert. Auch die Abwasser- und Labordaten haben sich in der Qualität in den letzten 3 Jahren verbessert – hier gibt es jedoch noch weiteres Verbesserungspotenzial.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
- Durch die nicht schnell genug angebotene Softwarelösung in der Pandemie gab es viele kommunale Eigenlösungen, so dass Daten kommunal vorhanden waren, jedoch nicht an das RKI weitergeleitet wurden – die einfachen Schnittstellen fehlten (API).
- Die vom Bund geförderte „Pflicht"-Software SORMAS wird nicht mehr unterstützt.
- Es sollte eine bundesweit gesteuerte Datensammlung geben, für alle Kommunen sollte eine Gratissoftware angeboten werden, mit definierten Protokollen und vorhandenen Schnittstellen für föderale Eigenlösungen der großen Kommunen.
- Finanzielle und personelle Stärkung der Stellen, die für die Entwicklung, Anpassung, Aktualisierung und Verbesserung der Usability der vom Bund zur Verfügung gestellten Software zuständigen sind.
Wie sieht für Sie die perfekte Meldekette von in einer Pandemie relevanten Daten aus?
- Aktuell: 1.) Positiver Test 2.) Ergebnis im Labor/Testzentrum 3.) Meldung beim Gesundheitsamt 4.) Weiterleitung ans RKI. Landesspezifische Auswertungen kann das RKI durchführen.
- Zweite Route: Direkte Meldung vom Labor ans RKI
- Einheitliche digitale Einbindung der Meldungen aus den institutionalisierten Einrichtungen (Schulen, Heime etc.) an die Gesundheitsämter, dann LZG, RKI und Ausbruchsmeldungen
Wie haben Sie bereits oder wollen sie gerne die Datenerhebung verbessern sowie eine schnellere Datenübermittlung und Auswertung gewährleisten?
- Eigene Softwarelösung DIKOMA seit 04/2020 mit Bürger-Login und Self-Service. Ausführlicher dazu: (https://edoc.rki.de/handle/176904/6821)
- Survnet und mögliche Erweiterung einsetzen, den Bund bei weiterer Softwareentwicklung unterstützen
- Wissenschaftliches Arbeiten:
- Gesundheitsmonitoring: Cocos Studie Köln(https://cocos.uni-koeln.de/)
- ESI CorA: https://www.rki.de/DE/Content/Institut/OrgEinheiten/Abt3/FG32/Abwassersurveillance/Abwassersurveillance.html
- Unbedingt muss die molekulare Surveillance verbessert werden. Die Gesundheitsämter brauchen Zugriff auf Isolate, damit molekulare Surveillance schnell initiiert werden kann. Dies ist durch die Privatisierung von Laboren damit verbundene geringe Aufbewahrungszeiten nicht möglich. Zudem tragen die Gesundheitsämter die Kosten für molekulare Surveillance oft selbst, die im ambulanten Setting oft nur in Studien stattfindet.
Welche Vor- und Nachteile beobachten Sie seit der Einführung von DEMIS?
- Zu Beginn Schwierigkeiten bei großer Zahl an Infektions-Meldungen
- Teilweise noch unzureichendes Feldermapping
- Anbindung weiterer Stellen sollte erfolgen
- Ausführlicher dazu: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/DEMIS/DEMIS_node.html
Für wie wichtig halten Sie die Erhebung einer Zufallsstichprobe, um etwa die Ausbreitung eines Erregers beurteilen zu können?
- Für sehr wichtig, deswegen beteiligen wir uns am Gesundheitsmonitoring der CoCos Studie Köln(https://cocos.uni-koeln.de/)
- Auch CoCos ist nur lokal. Besser wäre ein bundesweites Surveillance System, das lokal ausgewertet werden kann
Wie wollen Sie gewährleisten, dass in der nächsten Pandemie mehr Informationen darüber vorliegen, welche Bevölkerungsgruppen wie stark davon betroffen sind?
- Durch weitere regelmäßige kleinräumige Datenanalyse und wissenschaftliche Arbeiten wie im Rahmen der gezielten Veedels-Impfmaßnahmen in Köln:
- https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-koeln-koeln-will-in-stadtteilen-mit-hoher-inzidenz-bevorzugt-impfen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210427-99-371185
- https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-022-03573-4
- https://stadt-koeln.maps.arcgis.com/apps/webappviewer/index.html?id=515374f75b2f4c08bbf73e05ae1239e8
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
Für pandemische Infektionsgeschehen, die regelhaft von neuen, veränderten oder lange nicht mehr aufgetretenen Erregern ausgelöst werden, stehen naturgemäß anfangs keine oder nur wenige Eckdaten zur epidemiologischen Einschätzung zur Verfügung. Daher müssen Daten zu Erregereigenschaften, klinischer Ausprägung und Schweregrad der Krankheitsverläufe, der epidemischen Ausbreitung, den Hauptbetroffenengruppen und zu den Belastungen der Versorgungssysteme zunächst systematisch gesammelt und analysiert werden. Dies ist auch abhängig von der Entwicklung und Verfügbarkeit der Testmöglichkeiten, der Umsetzung von Melde- und Übermittlungspflichten, der Verfügbarkeit von Datenbanken und anderen Voraussetzungen. All dies wurde ab der ersten Pandemiewelle bei SARS-CoV-2 etabliert und hat sich im Verlauf bewährt. Eine von Ihnen so bezeichnete „Wunschliste", auf jegliche pandemischen Erreger zugeschnitten, ist aufgrund der genannten Faktoren vorab nicht zielführend, wir können aber auf die vor und in der Pandemie etablierten Maßnahmen des Monitorings gut aufsetzen.
Das Management einer Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Somit ist im Öffentlichen Gesundheitsdienst jede Ebene für die Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung ihrer spezifischen Möglichkeiten verantwortlich sowie für die Zusammenarbeit.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Durch die schnelle Einführung von COVID-19-PCR-Nachweisen als IfSG-Meldetatbestand konnten die individuellen Maßnahmen gegenüber den Betroffenen und Kontaktpersonen als Aufgabe des Gesundheitsamtes umgehend erfolgen, nochmals forciert durch die Nutzung elektronischer Melde- und Informationswege. Die Zielgruppentestungen im Schulbereich, in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen und angrenzenden Versorgungsbereichen ermöglichten zudem, die Hauptbetroffenengruppen hinsichtlich der Krankheitslast und der Übertragungsbedeutung einzuschätzen.
Für die Einschätzung der Belastung der klinischen Versorgung inkl. intensivmedizinischer Behandlungen steht dem GSR das IVENA-Meldesystem zur Verfügung, dessen Verlaufszahlen für die Veröffentlichung auf der städtischen Homepage muenchen.de aufbereitet wurden und werden.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Die lokale und regionale Meldedatenerfassung und -bewertung inkl. der Unterstützung durch die Landesbehörden ermöglichen eine zielgerichtete Fokussierung der Maßnahmenpakete auf die konkrete Situation in den Land- oder Stadtkreisen. Zudem werden die aggregierten Falldaten dem RKI als Bundesbehörde übermittelt, um für die politischen Entscheidungsträger von Bund und Ländern aufbereitet zu werden. Eine gesamtstaatliche, bundeslandübergreifende Datenbank würde sich nach Auffassung des GSR in Bereichen anbieten, in denen diese Daten im Verlauf einer Bearbeitung einem berechtigten Zugriff unterliegen könnten, wie dies z.B. durch ein zentrales vollelektronisches Impfregister möglich wäre.
Wie sieht für Sie die perfekte Meldekette von in einer Pandemie relevanten Daten aus?
Als perfekt zu bezeichnen wäre die digitale Meldekette vom Meldenden über die Kreis- und Landes- bis zu den Bundesstellen durch DEMIS oder vergleichbare Übermittlungssysteme. So könnten durch Zusatzmodule alle weiteren notwendigen Pandemiedaten eingespeist werden, da die Zugriffsberechtigungen für die jeweils bearbeitende Behörde exakt eingerichtet werden können. Wichtig ist, dass die Kommunen Zugriff auf steuerungsrelevante Daten erhalten, aufgrund derer sie dann örtliche Maßnahmen anordnen können.
Wie haben Sie bereits oder wollen sie gerne die Datenerhebung verbessern sowie eine schnellere Datenübermittlung und Auswertung gewährleisten?
Während der Pandemie kamen mehrere Erfassungssysteme zum Einsatz, wobei die Engstelle jeweils in der Zuführung der Primärdaten, also aus der ärztlichen Meldung oder der Labormeldung, besteht. Die Übermittlungen an das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ist quasi in Echtzeit, also mehrmals täglich, möglich.
Welche Vor- und Nachteile beobachten Sie seit der Einführung von DEMIS (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/DEMIS/DEMIS_node.html)?
DEMIS als Universalplattform für die IfSG-Meldungen und Übermittlungen hat sich grundsätzlich bewährt. Im GSR wird seit einigen Jahren ein digitales Datensystem als Schnittstelle zu DEMIS genutzt. Aufgrund der noch nicht flächendeckend etablierten elektronischen Meldungen aus der Regelversorgung müssen diese teilweise noch mit konventionellen Methoden entgegen genommen werden. Das GSR geht davon aus, dass in allen Bereichen mit Meldepflichten gemäß IfSG eine elektronische Meldung und Übermittlung etabliert wird, z.B. durch Integration in die Praxissoftware. Die verpflichtende Labormeldemodalität über DEMIS wurde erst 2022 geschaffen.
Für wie wichtig halten Sie die Erhebung einer Zufallsstichprobe, um etwa die Ausbreitung eines Erregers beurteilen zu können?
Zufallsstichproben sind häufig fehleranfällig, was bereits mit der Rekrutierung der Probanden beginnt. Daher halten wir gezielte Stichproben mit einer konkreten Fragestellung für geeigneter. Daten, die ursprünglich zu einem anderen Zweck gewonnen wurden, dürfen nicht auf neue Fragestellungen übertragen werden, da dies zu Fehlinformationen führen kann.
Schon frühzeitig wurden Stichproben aus dem vorhandenen Abstrich-Probenmaterial, jüngst auch vermehrt aus Abwasserbeprobungen, gezogen bzw. Sammelproben analysiert, womit Trends in der Verbreitung des Erregers und durch Sequenzierungen in der Zusammensetzung der zirkulierenden Virusvarianten sowie neue Varianten (Infektions- und Umweltmonitoring) aufgedeckt werden können.
Wie wollen Sie gewährleisten, dass in der nächsten Pandemie mehr Informationen darüber vorliegen, welche Bevölkerungsgruppen wie stark davon betroffen sind?
Es liegt in der Natur der Sache, dass insbesondere am Beginn der Pandemie kaum, im Verlauf aber immer mehr belastbare epidemiologische Daten und Informationen vorliegen. Nach Einschätzung des GSR wurden alle Zahlen erfasst, die zum Management der Pandemie notwendig sind. Auch für zukünftige Pandemien werden die Datenerhebungen und Erkenntnisse im Verlauf zunehmend spezifischer für betroffene Bevölkerungsgruppen darstellbar sein.
Zunächst: Die Datengrundlage zur epidemischen Lage war und ist während der COVID-19-Pandemie in Deutschland ausreichend, um die jeweils aktuelle Situation und Entwicklungen zu bewerten. Dank multipler Surveillancesysteme - die teils international als Referenz betrachtet werden - lagen und liegen detailliert, zeitnah und kleinräumig Informationen zur Transmission, Schwere und auch Impakt des Ereignisses vor. Beispiele für bereits etablierte, aber auch neu aufgebaute Instrumente sind: Meldewesen gemäß IfSG, syndromische Surveillanceinstrumente (GrippeWeb, Arbeitsgemeinschaft Influenza, ICOSARI), virologische Surveillance, Intensivregister, Testzahlerfassung, molekulare Surveillance, Laborsurveillance (SARS aus ARS), Abwassersurveillance, Impfquotenmonitoring, Inanspruchnahme von Mortalitätssurveillance und einige mehr. Diese Instrumente liefern - trotz jeweils bestehender Limitationen - in der Gesamtschau zeitnah eine solide Basis für Entscheidungen in der Pandemie.
Viele der Instrumente können und sollten jedoch verstetigt und ausgebaut werden, um in Zukunft noch bessere Daten zur infektionsepidemiologischen Lage zu liefern. Dies wird zum Teil bereits umgesetzt, wie der Ausbau des Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems für dem Infektionsschutz DEMIS (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/DEMIS/DEMIS_node.html) oder die Etablierung eines Panels, für das rund 100.000 Menschen in Deutschland regelmäßig zu ihrem Gesundheitszustand und verwandten Aspekten befragt werden sollen.
Aus Sicht des RKI müssen die Erfahrungen aus der Pandemie umfassend ausgewertet werden. Das Institut steht hierzu im engen Austausch mit anderen Akteuren des Bundes und der Länder. Hierbei sollten nicht nur die Daten zur infektionsepidemiologischen Lage der Bevölkerung betrachtet werden, sondern auch andere Aspekte, wie z. B. eine Übersicht zu ergriffenen Maßnahmen, deren Umsetzung in Kommunen und die Akzeptanz in der Bevölkerung und Auswirkungen (positiv wie negativ) der Maßnahmen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
Zu einem gewissen Grad wird es allerdings auch in künftigen Krisen unvermeidbar sein, dass zuweilen kurzfristig notwendige Entscheidungen auf Basis unsicherer Datenlage getroffen werden müssen. Eine einhundertprozentige sichere und in allen relevanten Aspekten vollständige Datenlage kann nicht erreicht werden, erst recht nicht beim Auftreten eines neuartigen Erregers.
Wenn Sie eine Wunschliste schreiben könnten: Welche Daten würden Sie sich für die nächste Pandemie wünschen und warum?
Welche Daten in einer zukünftigen Pandemie relevant sein werden, hängt natürlich auch davon ab, um welche Erkrankung es sich handeln wird, wie sie übertragen wird und in welcher Form sie gesellschaftliche Bereiche, einschließlich des Gesundheitssystems, beeinflusst. Bei Daten, die unmittelbar die Gesundheit der Bevölkerung betreffen (Inzidenzen, Immun-/Impfstatus, ...) wäre es wünschenswert in Zukunft von Anfang an weniger auf unvollständige Vollerhebungen (z.B. Meldezahlen) und mehr auf gut gemachte Stichproben-Daten aus etablierten Surveillance-Systemen zu bauen. Bei Daten aus dem Gesundheitssystem wäre flächendeckend eine Datenqualität und -aktualität wünschenswert, wie sie die DIVI für die Intensivstationen inzwischen bereitstellt. Auch Daten zum Verlauf nach Erkrankung wären wünschenswert, etwa Versorgungsdaten der Krankenkassen, die es erlauben, Behandlungspfade von Patienten im Gesundheitssystem zu verfolgen.
Für wie realistisch halten Sie diese Wünsche und warum?
Neben der Möglichkeit in Zukunft schneller neue Erhebungen zu organisieren, bzw. bestehende zu ergänzen, ist hier insbesondere die Datenverfügbarkeit natürlich ein Problem. Mit der Einrichtung des Open Data Teams beim RKI erwarten wir in den kommenden Jahren eine bessere öffentliche Verfügbarkeit solcher Surveillance-Daten. An der einen oder anderen Stelle können Abläufe bestimmt auch noch optimiert werden, sodass Daten aktueller vorliegen. Eine Großbaustelle in Deutschland bleibt auch das weiterhin fehlende Impfregister, das darüber Aufschluss geben könnte, wie sich die Gesundheit von Geimpften im Vergleich zu Ungeimpften entwickelt.
Wer müsste sich darum kümmern, dass Ihre Wunschliste Realität wird?
Dazu möchten wir keine spezifische Antwort als SMC geben.
An welchen Stellen hat sich die Datenlage aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren bereits verbessert?
Im Bereich der Intensivbettenbelegung gab es über das DIVI-Register kontinuierliche Verbesserungen. Auch bei den Meldedaten und anderen Datensätzen, die das Open Data Team des RKI zur Verfügung gestellt hat, gab es Fortschritte bei der Datenverfügbarkeit. Im Bereich der Surveillance (GrippeWeb, ICOSARI, ...) sind zwar die wöchentlichen Reports da, hier fehlt aber weiterhin die Datenverfügbarkeit, um dem (Daten-)Journalismus sinnvolle Alternativen zu den Meldedaten anbieten zu können.
Welche strukturellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der in Deutschland häufig auftretenden föderalen Datensammlung und wie ließe sich diese Infrastruktur aus Ihrer Sicht verbessern?
Das Daten dezentral gesammelt werden müssen, liegt der in der Sache selbst begründet, aber die digitale Weitergabe, Aggregation und Auswertung der regionalen Daten müsste in Deutschland über die verschiedenen Akteure hinweg ermöglicht werden.
Sie haben in der Pandemie mit Press Briefings, Literaturzusammenfassungen und Rapid Reactions viele Informationen für die Redaktionen in Deutschland gesammelt und zur Verfügung gestellt. Wie sollten Medien Ihrer Wunschvorstellung nach in der nächsten Pandemie über die verfügbaren Daten berichten? Welche Aspekte sind für Sie dabei besonders wichtig?
Gerade zum Anfang der Pandemie gab es einen Wettlauf nach den jeweils aktuellsten Zahlen. Dies hat dazu geführt, dass viele Angebote (Dashboards, Infokästen auf Startseiten und der ersten Seite der Tageszeitung) genau auf diese neuesten Zahlen, gerne auch mit der Veränderung zur Vorwoche, fokussierten. Und die Rückmeldung der Leserinnen und Leser war ja auch durchaus positiv, sie fühlten sich gut informiert. Fragte man dann aber nach: "Du hast jetzt jeden Morgen beim Frühstück die aktuellen Zahlen gelesen, dann sag mir doch mal den Trend für diese Woche. Wo stehen wir den gerade in der Welle?" dann wurde schnell klar, dass das tiefere Verständnis nicht immer übermittelt wurde. Diese tiefere Erkenntnis ist nicht mit der aktuellsten Zahl zu verwechseln. Bei der nächsten Pandemie müssen die Medien daher stärker diese Zusammenhänge erklären. Auch hier könnte man versuchen vor die Welle zu kommen: Warum nicht schon 2020 beim Lockdown erklären, welche Mechanismen dazu führen können, dass bestimmte Maßnahmen ab einem gewissen Punkt nicht mehr notwendig sind, also direkt Zusammenhänge von Maßnahmen und z.B. dem Immunisierungsstatus aufzeigen? Echte Unsicherheiten (Im Frühjahr 2020 war z.B. noch nicht klar, wann eine Impfung kommt und wie wirksam sie sein würde) sollen dabei nicht verschwiegen, sondern können zum Beispiel in Szenarien kommuniziert werden. So kann dann auch die Abhängigkeiten von einzelnen Parametern und ihr Zusammenwirken verdeutlicht werden im Sinne von Model Driven Data Reports wie es das SMC auch beim Gasspeicher-Report umsetzt. Zusammenfassend könnte etwas weniger Aktualität und Regionalität bei der Datenberichterstattung dabei helfen, das Gesamtbild für das Publikum besser zu zeichnen, den Fokus also nicht auf reine aktuelle Information, sondern stärker auf handlungsrelevantes Wissen zu legen.
Sehen Sie die Hauptverantwortung für eine ideale Kommunikation in der Pandemie bei den Medien, der Wissenschaft, der Politik oder Behörden?
Gelingende Kommunikation in der Öffentlichkeit kann nur dann ideal funktionieren, wenn alle Beteiligten ihre Rolle ausfüllen. Beim SMC richten wir natürlich das besondere Augenmerk auf die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus. Diese beiden Systeme müssen so kommunizieren, dass die öffentliche Aufmerksamkeit auf die wesentlichen und entscheidungsrelevanten Punkte fokussiert wird, also auf das richtige und wichtige Wissen zum Zeitpunkt X: Was sind in der aktuellen Situation die relevanten Erkenntnisse aus der Wissenschaft? Auf welche Daten kann man schauen, um die akute Lage einzuschätzen? Auf welche sollte man verzichten? Für eine ideale Kommunikation müssen aber auch die anderen Beteiligten ihre Rolle erfüllen und dazu gehört natürlich auch die Datenverfügbarkeit bei den zuständigen Behörden. Auch gilt es zu beachten, dass in der politischen Kommunikation mitunter für die Öffentlichkeit hochrelevanten Daten zurückgehalten werden, um zum Beispiel Entscheidungsspielräume aufrechtzuerhalten.